Query-Identität und Distributed Reality

Facebook ist die große Identitätsmaschine. Es ist so groß und wichtig und seine Datensätze durch seine schon immer geltende Realname-Policy auch so zuverlässig zurechenbar, dass in manchen Ländern bereits behördliche Benachrichtigungen per Facebook zugestellt werden. Darüber hinaus hat sich Facebook mit Facebook-Connect als der große Identitätsprovider etabliert. In vielen Diensten braucht man sich nicht mehr separat anmelden, sondern kann sich bequem per Facebook einloggen.

Alles fließt auf Facebook zusammen und bildet die eine große Facebookindentität. Alle Kommunikationen, die es bislang alleine durch ihre räumliche Trennung ermöglichten, im Alltag unterschiedliche Rollen einzunehmen, landen im zentralen Identitätsstream. Der Tratsch auf der Arbeit trifft auf die intime Kommunikation mit den Freunden und das angestrengte „jaaa, Mama“ mit den Eltern. Antje Schrupp fragte sich vor einiger Zeit, ob das nicht das Ende der Heuchelei bedeute und haut damit in die selbe Kerbe wie Mark Zuckerberg höchst persönlich, der einmal spekulierte, dass mehr als eine Identität zu haben, früher oder später als ein Mangel an Integrität aufgefasst werden wird.

Viele Privacy-Advokaten atmeten sichtlich auf, als Google Plus mit den Circles um die Ecke kam, die so ähnlich schon in dem alternativen und auf Datenschutz fixierten Projekt Diaspora zum Einsatz kommen. „Jetzt kann man endlich wieder trennen, was getrennt gehört.“ Ich weiß nicht, wie sehr die Circles nun wirklich als Privacy-Feature genutzt werden (in meinem Stream ist meist fast alles public geshared), ich weiß nur, dass sobald etwas „limited“ geshared ist, es nur Probleme verursacht. Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus.

Vieles spricht dafür, dass beide Annahmen über die Identität falsch sind. Ich glaube weder an die Zusammenführung der Rollen zu einer, zentralen Identität, noch an den Sinn die altbekannten identitären Rollen restriktiv durchzusetzen. Unsere soziale Identität wird sich im Gegensatz dazu, was Mark Zuckerberg denkt, noch weiter aufspalten. Und im Gegensatz dazu, was die Dispora und GooglePlus Entwickler denken, werden es nicht (nicht nur und nicht in erster Linie) die sozialen Alltagsrollen sein, in die wir uns spalten.

Ich glaube, Kathrin Passig war es, die mal erzählte, dass sie ja erst im Web ihre Freunde so richtig kennen gelernt habe. Sie meinte das aber keineswegs positiv. So wäre ihr bei manchen Leuten, mit denen sie sich gerne abgibt, nie ihr grauenhafter Musikgeschmack aufgefallen. Der drängte sich erst per Last.fm auf, wo man in Anbetracht der Freundschaft natürlich auch connected ist und Leute, deren Gedanken sie eigentlich immer mochte, gaben auf Twitter plötzlich nur uninspirierten Stuss von sich.

Kann es sein, dass sich für unsere ganzheitliche, alles zusammenfassende kommunikative Identität eigentlich keiner so recht begeistern kann – außer wir selbst? Dass die ganze Idee der sich alles zurechenbar machenden Persona und auch deren Teilung und Trennung in Schutzbereiche eine Überhöhung der Idee des Subjektes ist – das im Internet eigentlich keiner mehr so richtig braucht?

Die Internetwerbewirtschaft ist da wesentlich weiter. Es gibt Gerüchte, dass Google Plus nur deswegen auf die Realnames besteht, weil sich Datensätze mit zuordbaren bürgerlichen Identitäten besser vermarkten lassen. Jeder, der sich nur ein bisschen mit dem Werbemarkt, der Zielgruppenanalyse und dem Targeting auskennt, weiß, dass das völliger quatsch ist. Keiner der Werbevermarkter interessiert sich für Namen oder gar bürgerliche Identitäten. (Außer die Direktvermarkter der Printverlage, die den Namen und die Adresse brauchen, um Werbepost aus Papier auszuliefern). Man ist in den Werbedatenbanken nur eine anonyme Nummer mit einem Bündel von Eigenschaften: Clickstreams aus denen dann statistisch geschätzt wird, welches Geschlecht man hat, welche Sprache man spricht, wie alt man ungefähr ist, etc. Werbern ist unsere Identität egal. Stattdessen ziehen sie nur einzelne Aspekte unseres Selbst heraus, für die sie sich interessieren.

Wie alles, wird auch die Identität sich im Zeitalter der Query am Bedürfnis nach Filterung des Empfängers orientieren. Es geht darum, sich aufzuspalten, sich selektiv zugänglich zu machen. Auf einer einzigen, unteilbaren Identität zu bestehen, grenzt an Nötigung.

Ich habe eine Zeitlang meinen Twitterstream in mein Facebookprofil geleitet. Das Ergebnis war, dass meine Freunde dort schnell genervt waren. Ich twittere zu viel, als dass es die Leute bei Facebook ertragen könnten. Außerdem twittere ich anders, als ich zu meinen Facebookfreunden sprechen würde. Nach Mark Zuckerbergs Theorie müsste ich alles in Facebook hereinleiten: die Last.fm, Twitter, Fotoservices, Locationcheckins, Ergebnisse der Joggingrunden (was ich tatsächlich tue) und meine Antworten auf Formspring . Und denkt man nur von sich aus, ist das auch ein nahe liegender Gedanke. Aber in Wirklichkeit geht man nur seinen Freunden auf die Nerven. (Dass dieses Denken ein Holzweg ist, hat schon das Scheitern von Friendfeed gezeigt.)

Der queryologische Imperativ an den Sender ist: Spalte deine Identität auf! Mache alle Kommunikationen verfügbar aber vor allem einzeln abonnierbar. Du sollst keine Posts in die Streams pushen, sondern nur Informationsangebote machen und zwar als Opt-In

Identität definiert sich damit nicht mehr von der Sender-Persona, sondern vom Anderen her. Der Andere ist es, der sich Aspekte einer Person abonniert und beliebig zusammensetzt. Wie ich bereits im Artikel zu Google Plus festgestellt habe: unterschiedliche identitäre Rollen sind kein durchzusetzendes Recht des Senders, sondern eine Forderung des Anderen. Zersetze Dich, Identität!

Ich mache bereits heute die Erfahrung, dass mich die Leute aus ganz unterschiedlichen Kontexten und damit in unterschiedlichen Rollen kennen. Mir selbst ist das immer gar nicht so bewusst, aber es ist tatsächlich so, dass mich die meisten nur aus einer, maximal zwei Dimensionen her einordnen.

Wer ist eigentlich mspro / Michael Seemann?

Für manche ist das der Typ, der immer bei den Twitterlesungen mitmacht. Von diesem Blog – wie hieß es noch? – ach ja: Twitkrit. Für einige (ich glaube sogar die meisten) bin ich der Podcaster, der mit Max zusammen wir.muessenreden.de macht. Einige verorten mich bei der Spackeria, obwohl ich da eigentlich gar nicht involviert bin, kommen dann aber auch auf dieses Blog hier. „Ach ja, das mit dem Kontrollverlust„. Einige wiederum kennen mich nur als Twitterer, der andauernd beißende Kommentare zur aktuellen Nachrichtenlage absondert. Dann gibt es viele, die mich tatsächlich noch von Vorinternetzeiten her kennen. Die dann mit mir auf Xing oder Facebook befreundet sind und die ganzen anderen Webgeschichte kaum mitbekommen. Wer weiß, vieleicht gibt es auch Leute, die nur und ausschließlich meinen Blog mspr0.de abonniert haben.

Ähnlich wie die Query-Öffentlichkeit keine Öffentlichkeit mehr im engeren Sinn ist, ist auch die Query-Identität keine richtige Identität mehr. Es spielt bei all dem ja keine Rolle mehr, ob eine Kommunikation einem biologischen Körper zurechenbar ist, oder nicht. Den Empfänger mag es nicht mal kratzen, dass mspro und Michael Seemann den selben Körper teilen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass es Leute gibt, die beide Namen kennen, aber diese Verknüpfung gar nicht machen. Warum auch?

Interessant ist zudem die Tatsache, dass auf der Seite des Empfängers, also des Anderen die Identität als Referenz einer individuellen Persönlichkeitsstruktur zwar vorhanden ist, aber externalisiert wird. Die Query selbst ist schließlich nichts als ausgelagerter Wille und simulierte Kommunikation. Die Query ist das neue „Selbst.“

In „Studien zur nächsten Gesellschaft“ stellt Dirk Baecker fest, dass die „Katastrophe des Buchdrucks“ von der Gesellschaft nur deswegen verarbeitet werden konnte, weil Descartes mit seinem „Cogito ergo sum“ das Konzept einer frei schwebenden Identität einführte. Nur mit der immer wieder rückführbaren Referenz auf ein imaginäres Selbst kann man mit den riesigen Informationsmassen, die plötzlich auf den Geist einströmten, umgehen. „Selbst“ half, eine Grenze und einen Abstand zwischen dem eigenen Denken und dem Geschriebenen zu schaffen und ermöglichte so Kritik.

Die neue „Katastrophe“, die des Computers und des Interntets wird erfordern, diese Identität als Referenzpunkt für Realität wieder ein Stück weit aufzugeben – zumindest zu öffnen. Identität – das Zusammenfassen und rückführen aller Eigenschaften, Daten und Kommunikationen auf seinen Austrittskörper – wird nur eine unter vielen möglichen Queries sein. Die neuen Queries werden Aspekte, Beobachtungen, Empfehlungen, Erlebnisschnippsel und Gedanken von vielen, vielen Absendern individuell bündeln, rekonfigurieren, bei Bedarf simultan übersetzen, in eine spezielle Reihenfolge bringen und so eine komplexe Sicht auf Realität ermöglichen: die „Distributed Reality„.

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8 Kommentare zu Query-Identität und Distributed Reality

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