Queryology II – Das Filtersubjekt

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Dies ist nun der zweite Teil einer überarbeiteten Version eines Vortrags, den ich während des 27c3 in der c-base gehalten habe. Es ist ungemein wichtig, den ersten Teil – Queryology I – Das Ende der Medien – zu lesen, um die Ausgangslage der Gedanken hier zu verstehen.
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Dieses Video wirft einige Fragen auf. Vor allem: Was genau passiert hier?

Zunächst das offensichtliche: Eine merkwürdige Kamera wird präsentiert, die die Realität verändert darstellt. Dinge, die vorher da waren, sind es nicht mehr. Das Bild wird manipuliert.

Wir kennen das zu genüge. Die Medien waren nie ganz objektiv in ihrer Weltdarstellung und selbst Techniken wie Fotomontage sind viel älter als die digitale Technik. Als Stalins Regierungsstaab immer keiner wurde, weil er einen nach dem anderen „beseitigte“, ließ er schon damals immer auch die Fotos redigieren. Die Toten sollten nie existiert haben.

Seit einiger Zeit gibt es in vielen Medien, vor allem in Magazinen, kaum mehr nichtbearbeitete Fotos. Das Blog Photoshop Disasters zeigt, wie die Kunst der Bildmanipulation seither zum schludrigen Nebenherjob mutierte, der von unterbezahlten Praktikanten in Akkordarbeit bewerkstelligt wird.

Simulation

Schon vor über 30 Jahren rief Jean Baudrillard das Zeitalter der Simulation aus. Es löst das Simulaktrum der Produktion ab, in dem Zeichen ohne Vorbild hergestellt wurden (wie z.b. das Telefon), so wie zuvor schon die Produktion die Imitation ablöste, jenes Simulakrum, in dem die Zeichen noch die Natur nachahmten. Im Simulakrum der Simulation wird nun die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, also der realen Welt, endgültig kontingent. Wir dürften den Bildern nicht mehr trauen, ruft uns Baudrillard zu. Alles löse sich in einer trügerischen, nur aus Zeichenfassaden bestehenden Welt auf.

Und wenn er heute noch leben würde, fehlte ihm vermutlich das nächste Superlativ für das oben gezeigte Video. Damit dürfte die Simulation endgültig Einzug gehalten haben. Ist es also so? Treten wir ein, also diesmal wirklich ein, in das Zeitalter der Simulation?

Wenn wir versuchen wollen, in der Bibliothek von Babel die Prozessierung von Information zu verstehen, müssen auch wir uns radikal vom Denkschema der Medien lösen und uns erneut fragen: was passiert wirklich in dem Video?

Oberflächlich sehen wir auch hier nur Aufschreibesysteme. Es wird uns ein Bild generiert, das abspeicherbar, weiterverarbeitbar und so weiter ist. Auch die Manipulation ist nichts wesentlich neues.

Jedoch passiert dieser Prozess automatisiert und in Echtzeit. Es scheint so, als ob der ganze baudrillardsche Diskurs um die Simulation in Algorithmen gegossen wurde. Die Software nimmt die die bekannten Editiertechniken und wendet sie scheinbar ohne merkliche Verzögerung und von ganz allein auf das Original an. Das lässt uns eben nicht einen manipulierten Film schauen (das wäre ja nichts neues), sondern durch eine manipulierende Linse.

Dies ist überhaupt nur möglich, weil der Algorithmus das Bild zuvor – jedenfalls grob – liest. Der Computer befragt das Bild, er zieht in ihm Grenzen und unterscheidet Flächen. Der Algorithmus sieht! Er sieht für uns! Bevor wir das Bild zu sehen bekommen, sieht er hin, zersetzt das Bild, diskriminiert Bereiche und macht es uns selektivin seinen Bestandteilen – zugänglich.

Was wir hier haben ist das, was Vilém Flusser eine „Sehmaschine“ nennt.* Eine Maschine, die für uns sieht, die für uns liest und filtert und das gesehne in vorab definierter Form zugänglich macht. Wir sehen hier eine frei konfigurierbare Query an die sichtbare Welt. Und das ist etwas ganz anderes, als das, was Baudrillard sich noch unter „Simulation“ vorstellen konnte.

Hier zeigt sich ein weiteres Mal, wie das Denken sich wandeln muss, will es den Sprung schaffen, den man machen muss, um sich vom Konzept der Medien zu befreien. Baudrillard konnte damals noch nicht – ebenso wenig wie Kittler – die Zusammenhänge fassen, die sich aus der Entwicklung der Informationstechnologien ergeben. Der Geist ist gefangen in den Schemen der Medien und will alles in diesen Kontext einreihen. Und so ist auch die These vom Simulakrum der Simulation eine Erzählung der Aufschreibesyteme. Und sie verbleibt damit ironischer Weise selbst im Simulakrum der Produktion – der industriellen Fertigung der Zeichen.

Filtern ist nicht neu. Schon vor 150 Jahren konnte man linke oder rechte Zeitungen abonnieren und der Journalismus hat schon immer in einem Überangebot von Informationen das Relevante für die Leser herausgesucht und es in opportune Perspektiven gestellt. Jede Publikation ist bereits ein Filter. Ist die „Echtzeitfilterung“ also nur die Fortsetzung des Gatekeepers mit anderen – digitalen – Mitteln? Sind „Sehmaschinen“ also nur algorithmisierte Journalisten, Archivare und Verleger? Im Grunde ja. Und gleichzeitig wieder nein.

Ordnung

Um die „Sehmaschine“ zu verstehen, muss man in die 70er Jahre zurückgehen, als sie ihre ersten Gehversuche machte. Die Sehmaschine hat nämlich ihre Anfänge nicht in den Redaktionen der Verlage oder in der optischen Technik, sondern in der Entwicklung der relationalen Datenbank. Es geht dabei nicht in erster Linie um Bilder, im Grunde nicht mal nur um Informationen, sondern um ihre Ordnung.

Ordnung ist eine Speichertechnik. Wenn ich etwas an eine genau spezifizierte Stelle lege, dann kann ich oder jemand anderes zu einem späteren Zeitpunkt wieder darauf zurückgreifen. Ordnung gehört somit dem Kontinuum der Aufschreibesysteme also „Medien“ an und die ersten Datenbanken waren Aufschreibesysteme im klassischen Sinn – auch wenn sie auf Computern liefen. Sie hatten Ordner und Unterordner und Unterunterordner. Man konnte sich hirarchisch von Kategorie zu Unterkategorie bewegen, bis man sein Ziel – die gewünchte Information gefunden hatte. Im Grunde genommen brauchte man für die frühen Datenbanken gar keinen Computer; man hätte die Daten ebenso gut in beschrifteten Schuhkartons organisieren können.

David Weinberger unterscheidet drei verschiedene Ordnungstypen: Die erste Ordnung der Ordung ist die Ordung der Reiheinfolge und des Ortes der Dinge, etwa wie ich mein Bücherregal sortiert habe. Die zweite Ordung der Ordnung ist die, wenn wir statt den Dingen, ihre Metadaten sortieren. Etwa Karteikästen oder Kataloge. Die Frühen Datenbanken waren eine Mischung aus den ersten beiden Ordnungen der Ordnung.

Erst mit der Entwicklung der realtionalen Datenbank durch Ted Codd und seinem Team kam der Computer zur Ausnutzung seines Potentials. War es vorher noch notwendig den semantisch-hierarchischen Aufbau einer Datenbank zu kennen, um sich darin zurecht zu finden, stand auf einmal eine merkwürdige Zaubersprache zur Befragung der Datenmassen zur Verfügung. SQL – Structured Query Language. Damit kann man Abfragen machen, wie:

„SELECT date FROM artikel WHERE title=’Queryology II – Das Filtersubjekt‘;“ **

Und bekommt das Datum dieses Artikels heraus. Oder man fragt:

„SELECT datum FROM artikel LEFT JOIN kategorienverknüpfung ON kategorienverknüpfung.artikel = artikel.id WHERE kategorienverknüpfung.kategroie = ‚qeryology‘; **

Diese Query würde mir die Erstellungsdaten aller Artikel ausgeben, die mit „Queryology“ getaggt sind. Wohl sortiert in einer Liste.

Was Codd tat, war, dass er die die Kontrolle der Daten – ihre Ordnung und all ihre Möglichkeiten – aus den Händen derer nahm, die die Daten strukturieren und einstellen und sie jenen gab, die die Daten abfragen. Die Datenbank ist flach, sie kennt keine Relevanz, keine Hierarchien, keine Zusammenhänge. Ordnung, Struktur und Verknüpfung entsteht erst in dem Moment, wenn ich meine Query formuliere. In Echtzeit.

Diese Technik – nicht in ihrer konkreten Ausgestaltung – aber von ihrem Prinzip her – arbeitet auch im Manipulationsalgoritmus aus dem Video. Mit SQL war der Startschuß gegeben für das, was wir in der Bibliothek von Babel als neues Paradigma der Sinngenerierung verstehen können. Die Query löst die Medien ab. Wo vorher der Rufer in’s Nichts den Sinn produzierte, steht heute der algorithmische Filter im Alles.

Dies ist Weinbergers “dritte Ordnung der Ordung”. Im Gegensatz zur ersten Ordnung der Ordnung und der zweiten Ordnung der Ordnung ist die dritte Ordnung der Ordnung allerdings keine feststehende Ordung mehr. Sie ist die noch zu definierende Ordung der Abfrage, eine Adhoc-Ordung. Es ist die Wunschordung des Betrachters, die keine Instanz des „Designs“, des „Achivars“ oder des „Programmierers“ mehr vorgibt, sondern sich meiner Sehmaschine beugt.

Die dritte Ordnung der Ordnung ist eine Ordnung, die den Namen nicht mehr verdient. Es ist keine Ordung. Es verdient nicht den den Präsens des Wortes „sein„. Die dritte Ordnung der Ordnung ist nicht, sondern wenn überhaupt, wird sie sein. Die dritte Ordnung der Ordnung kündigt sich nur an und zwar – das habe ich einstmals zu zeigen versucht – sie kündigt sich als das ganz Andere an. Die Query ist nicht und sie ist nicht vorhersehbar. Sie wird eine ganz andere Ordung gewesen sein, als die, die ich mir zu einer gegebenen Zeit X vorstellen kann.

Filtersubjekt

Derweil kündigt das emphatische „You„, „Yours“ und so weiter aus dem Video ein neues Subjekt an. Nachdem wir das Subjekt als Autorenfunktion seit Foucault und Barthes schon lange kaltgestellt haben und ihm mit der Query den letzten Todesstoß versetzt haben, taucht es auf der anderen Seite der Gleichung unvermittelt wieder auf. Derjenige, der die Anfrage formuliert, erhält eine merkwürdige, neue Autorenrolle; als Autor seiner Wahrnehmung. Diese neue Souveränität des Filtersubjektes über seine Weltperzeption, stellt nicht nur jede Erkenntnistheorie auf den Kopf, sondern invertiert alle Diskurse der Postmoderne.

Wenn der Kontrollverlust der endgültige Verlust des Aufschreibe-Subjekts ist, dann ist die Queryology die Geburt des Filter-Subjektes.

Wenn wir unter dem Paradigma der Medien von Beschränkungen sprachen, dann taten wir es mit dem Unterton der Unfreiheit. Auch der Diskurs Baudrillards denkt die Simulation als Unterdrückungswerkzeug. Wenn wir heute, in der Bibliothek zu Babel und unter den Möglichkeiten der Query von „Beschränkungen“ sprechen, dann tun wir es unter der Maßgabe der Befreiung. Denn all die Diskurse und Regeln und Determinismen von einst, werden zu Echtzeitalgoritmen und damit zu Tools der Filterung. Wir schalten uns Beschränkungen vor unsere Wahrnehmung, um unsere persönliche Sinnproduktion zu verbessern. Die Dispositive werden zur Sichtbarkeitskonfiguration. Ideologien werden zur Brille. Tabus werden zum Filtersystem.

Wenn die Aufklärung die Befreiung von der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist, dann hat sie dort nicht halt gemacht. Sie ist dabei, die realitätsbestimmte Unmündigkeit aufzulösen. Das Filtersubjekt ist das Subjekt einer Art Hyperaufklärung. Es ist das mündige Subjekt der Konfiguration seiner eigenen Wahrheit.

Fazit

Wir sind gerade erst an dem Punkt angelangt, an dem wir anfangen, die großen Linien zu sehen; dabei ist das alles längst dabei die Welt nachhaltig umzukrempeln. Google, twitter, Facebook und all die anderen weisen den Weg in die queryologische Zukunft. Und die wird holprig. Die Menschen an in den Archiven und an den Mischpulten haben längst verstanden, dass sich da einiges verändert und kämpfen gegen bereits ihre vielfältigen Kontrollverluste.

Was genau passiert und passieren wird, ist allerdings Gegenstand einiger komplexer Überlegungen, die noch gedacht werden müssen. Es schließen sich etliche Fragen an: Was wäre „Gesellschaft„, „Wahrheit„, „Identität“ und „Kultur“ von der Query her gedacht? (Ich habe das bereits einmal mit dem Begriff „Öffentlichkeit“ versucht zu fragen). Fragen dieser Art würde sich eine „Queryology“ zur Aufgabe machen. Als eine historische Untersuchung des Jetzt. Als eine Echtzeitarchäologie.

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* Um genau zu sein, muss man anfügen, dass Flusser zwar die Hellsicht besaß die „Sehmaschine“ als zu bedenkendes Objekt erkannt zu haben, es aber ebenso wenig wie Kittler und Baudrillard schafft, den Turn nachzuvollziehen, den ihr Erscheinen bedeutet. Übrigens ebenso wie Lev Manovich das Wesen der Datenbank zwar erahnte, aber gedanklich doch verfehlte.

** Veinfachte Version. Orginale und funktionale Version wäre:

„SELECT wp_posts.post_date
FROM wp_posts
LEFT JOIN wp_term_relationships ON wp_term_relationships.object_id = wp_posts.ID
WHERE wp_term_relationships.term_taxonomy_id =141
LIMIT 0 , 30“

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