Utopie and me

Nicht nur einmal habe ich gesagt, dass der Kontrollverlust/Postprivacy der „Aufruf zur Utopie“ sei. Ich gebe zu, das ist etwas wohlfeil, denn bis heute bin ich selbst diese Utopie schuldig geblieben.

Ich habe selber keinen Sinn für Utopien, ich bin glaube ich, nicht optimistisch genug. Die diversen Kontrollverluste kosten heute schon Opfer und werden in Zukunft noch Opfer kosten, da mache ich mir nichts vor. Ich glaube, lange nicht so viele, wie sich verängstigste Datenschützer in ihren Alpträumen zusammenphantasieren, aber dennoch genug, um ein Problem zu sein. Das glaube ich übrigens nicht nur in Sachen Datenschutz, sondern auch in anderen Bereichen, in dem der Kontrollverlust wütet: den Geschäftsmodellen rum um die Informationsdistribution und der Destabilisierung politischer Institutionen. Wir werden noch viel Chaos sehen, es werden viele Menschen arbeitslos werden. Für viele birgt der Kontrollverlust erstmal eine Verschlechterung der Lage und die Hoffnung auf Besserung ist zwar nicht unberechtigt, jedoch nicht zwingend.

Andererseits bin ich aber auch nicht pessimistisch genug, um an eine Dystopie zu glauben. Ich bin mir sicher, dass die Veränderungen durch den Kontrollverlust gewaltig sein werden. Aber, seien wir mal realistisch: Weltuntergang is not an Option! Die Gesellschaft wird sich nicht entschließen unterzugehen, egal was da kommt. Vieles von dem, was aus der Postprivacy-Ecke kommt, wird zwar von manchen bereits als Weltuntergang empfunden, ich halte das aber für ein Mißverständnis. Dass Menschen ihren Aufenthaltsort automatisch tracken lassen und veröffentlichen, hätte keiner von uns vor 5 Jahren gedacht. Ich auch nicht. Heute finden das manche noch creepy, manche aber schon ganz normal. Menschen wandeln ihre Werte, weil sie meist unrealistische Vorstellungen von Vorgängen haben, die sie selbst noch nicht ausprobiert haben. Ewartungswerte und Werte ansich sind in einem ständigen Fluss und Veränderung wird nun mal per se bedrohlich wahrgenommen.

Es ist leicht, die Menschen zu verunsichern. Das Neue hat noch keinen Kredit, einfach weil es das Unbekannte, das Andere ist. Man kann schnell Bedrohungsszenarien gegen das Neue in’s Spiel bringen, ebenso leicht wie gegen alles Fremde. Sei Vorsichtig, sie sind hinter dir her, die „Datenfresser„! Und die Deutschen zucken ja gerne wie wild zusammen, wenn sowas kommt.

Als jemand, der gegen die Angstmacher argumentieren will, hat man es nicht leicht. Zwar braucht man sich meist nur umzusehen, um aufzuzeigen, dass die neuen Tools und die neue Umgangsweisen mit Technologien ja anscheinend Vorteile haben, denn sonst würden sie schließlich nicht so rege genutzt. Aber wenn man anfängt, diese Vorteile definieren zu wollen, kommt man schnell in’s Straucheln. Mir ist das bei der Google Streetview Diskussion aufgefallen. Obwohl ich viele – bei mir schon tatsächlich vorgefallene – Usecases aufzählen konnte, verblieben die Beschreibungen abstrakt und fleischlos bei denen, die es noch nicht in der Praxis kannten. Ein Klassiker der Netzszene ist „Erkläre Twitter.“ Jeder, der Twitter nutzt, kommt irgendwann – meist mehr als einmal – in diese Situation und wenn man in seiner Timeline diese Worte liest, empfindet man sofort Mitleid. Die sprichwörtliche Unerklärbarkeit von Tools wie Twitter ist ein echtes PR-Problem des Netzes. Metaphern versagen am laufenden Band, wenn man den Vorteil eines neuen Dienstes aufzeigen soll, denn meist handelt es sich um völlig vorbildlose Kommunikationsarten. Das Neue eben. Das wirklich Neue ist nicht erklärbar, sonst wäre es nicht neu.

Man steht also argumentativ ziemlich im Regen, wenn man erklären soll, warum es nicht schlimm ist oder gar Vorteile birgt, zunehmend die Kontrolle über die Informationen zu verlieren. Warum dieser Schritt nicht nur unausweichlich ist, sondern auch ein Heer neuer Freiheiten bereitstellt. Diese Utopie zu zeichnen, kann nur schief gehen, weswegen ich es bislang auch dabei beließ, auf die Unabwendbarkeit dieser Szenarien hinzuweisen. „Hier, da, friss! Ist eh alternativlos.

Ich wurde wegen dieser rüden Art gerne gemaßregelt und ich fürchte, zurecht. Ich glaube, ich komme nicht mehr daran vorbei, mich doch aus dem Fester zu lehnen und eine positive Zukunftsvision zu zeichnen. Wenn man den Menschen etwas nimmt, dann muss man ihnen auch die Chancen des Gegenwerts aufzeigen, egal wie unmöglich das ist.

Jetzt bin ich bei einem neuen Projekt involviert. Für das Kunstprojekt „Public is the new Private“ des Logentheaters versuche ich die Utopie aus meiner eigenen Erfahrung als Internetheini (oder „Netizen„, oder was man dazu halt sagt) zu ziehen. Denn um ganz offen zu sein: ich mag mein Leben. Ich bin in einem Maße zufrieden, dass ich sowas ähnliches wie glücklich bin. Und an diesem Zustand ist das Internet ganz wesentlich beteiligt. Ich weiß, dass man mein Leben und meine Art mit dem Internet umzugehen nicht generalisieren kann und dass es nicht das Lebensmodell aller Menschen sein kann. Aber ich bin ein Beispiel, wie die Dinge sich entwickeln können. Eines von vielen und vor allem ein ganz geringes unter Milliarden Möglichen.

Denn das ist ja das tolle am Netz. Es ist offen für alles, was man hineintut. Das Internet ist immer das, was man draus macht. Ich sehe keinerlei Beschränkungen dahingehend, dass es nicht jeden auf ganz unterschiedliche Art und Weise glücklich machen kann. Ich glaube sogar, dass man bald ohne Internet nicht mal mehr ein richtig guter Technikverweigerer sein kann, denn wo soll man denn sonst die ganzen Tipps zur Subsistenzwirtschaft herbekommen?

Meine Utopie ist diese: Je weiter wir Lebensbereiche, Erinnerungen, Kommunikation und Identitätsversatzstücke in das Internet verlagern, erweitern wir unsere Existenz in es hinein. Wir wachsen identitär. Halb- bis Vollautomatisierte Prozesse und soziale Dynamiken, die sich aus der Hypersozialität der mannigfaltigen Verknüpfungen im Netz ergeben – die irgendwie zu uns dazugehören – sorgen für uns in jeder Hinsicht. Sie versorgen uns mit allem, was gerade so ansteht, wen oder was wir gerade so brauchen, Ideen, Aufträge, Projekte und ja, auch Überraschungen. Und nebenher regelt es im Hintergrund unser Leben, unsere Administration, die Steuer oder was auch immer.

Na? Ist das nicht prima?

All das verlangt ein heute vielleicht noch unvorstellbares Maß an Vertrauen in solche Prozesse. Aber wer hätte denn damals gedacht, dass Menschen sich tatsächlich in stählerne Kolosse setzen würden, die in der Luft rumfliegen? Die Zeit bringt Erfahrung, bringt Vertrauen. Und so wie wir heute bereits ganz anders mit unseren Daten umgehen, als wir es uns in den 90ern vorstellen konnten, werden wir ganz natürlich die Kontrolle verloren haben. Beziehungsweise sie eingetauscht haben, gegen die Freiheit.

In What Technology wants (Affiliatelink) definiert Kevin Kelly die Freiheit so platt, wie evident als: Optionsvielfalt. Je mehr Optionen man für eine Situation oder das Leben hat, desto freier ist man. Der moderne Mensch stöhnt zwar ob der Optionsvielfalt recht häufig, besonders wenn er sich vorm Supermarktregal nicht für eins der siebenundvierzig Haarshampoos entscheiden kann, aber langfristig hat sich die Menschheit immer für das Mehr an Optionen entschlossen. Und das heißt: für Technologie.

Technologie bringt Optionsvielfalt. Je mehr Technologie, desto mehr Optionen. Das ist sicher eines der grundlegenden Erkenntnisse von Kellys Buch. Wenn wir aber nun an einem Punkt angekommen sind, an dem die Optionsvielfalt uns überfordert – mehr, viel mehr noch als das Supermarktregal, nämlich im Internet – dann reicht es eben nicht mehr nur die Optionen des Indiviuums zu erhöhen, um mehr Freiheit zu erreichen. Dann müssen wir das Idividuum selbst erweitern. Genauer: Wir müssen seine Entscheidungkraft, seine Entscheidungstaktfrequenz seine Entscheidungsmächtigkeit erhöhen. Und zwar wiederum durch Technologie.

Dies ist, wie unschwer zu erkennen ist, das Projekt der Queryologie. Die Queryologie ist die Erweiterung der individuellen Entscheidungsmetrik in und durch die Query auf das Internet. Dabei kann die Query sowohl sozial als auch algorithmisch definiert sein. Im Endeffekt ist sie immer beides.

Mein Experiment des So-vor-mich-hinlebens ist also der Versuch der queryologischen Existenz. Und in sofern ist mein Leben eine Utopie in Progress. Ich sag ja: ich bin zu sehr Realist für Utopien.

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8 Kommentare zu Utopie and me

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