Was wäre echte Netzneutralität?

Wenn man sich in die Tiefen der Netzneutralitäts/Quality of Service Debatte einliest, merkt man schnell, dass das alles nicht so einfach ist. Schließlich ist die Topographie des Netzes nicht wirklich gleichmäßig und die Datenströme verteilen sich ebenso ungleichmäßig. Provider arbeiten schon lange daran, mithilfe von Priorisierungen und intelligentem Routing die Datenströme einigermaßen im Zaum zu halten. Egal wie man zur Netzneutralität steht, QoS gibt es und es ist notwendig und es ist auch wichtig für den Nutzer und es kann nicht darum gehen, dass den Providern verboten wird, ihren Traffic zu managen.

Was Netzneutralität aber will, ist, dass jenseits von Maßnahmen zur Sicherung der Standards, Daten nicht nach ihrer Art oder Herkunft beliebig ausgebremst oder bevorzugt oder gar ganz aussortiert werden. Die Idee dahinter ist die einer neutralen Infrastruktur. Und das nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern vor allem aus politischen Beweggründen. Was wäre Meinungsfreiheit heute schließlich noch wert, wenn die Infrastrukturbetreiber oder Politiker heimlich darüber entscheiden können, welche Nachricht wie, ob und in welcher Qualität ankommt?

In der Frage der Umsetzung jedoch scheiden sich die Geister. Wollen wir Netzneutralität staatlich garantieren, also eine Regulierung zur Nichtregulierung einführen? Oder sollten wir lieber ordnungspolitisch für einen vitalen Wettbewerb sorgen, und darauf hoffen, dass sich dann die netzneutralen Anbieter am Markt durchsetzen?

Ich bin mittlerweile gegenüber beiden Ansätzen skeptisch. Der Marktansatz wird zu viele Extrasondersuperangebote hervorbringen, die mit sehr eingeschränkten Datenverbindungen viele Konsumentenwünsche befriedigen. Man kann das bereits daran sehen, dass Facebook schon heute fast überall auf der Welt für umsonst aufzurufen ist, weil es weltweit entsprechende Deals eingefädelt hat. Die meisten Smartphonenutzer haben eh nur eine App installiert: Facebook. Für viele reicht das auch, was sollen sie monatlich viel Geld ausgeben für dieses ominöse „Internet“?

Aber auch den staatlichen Ansatz sehe ich zunehmend kritisch. Erstens sind alle Regularien staatlicherseits schwer durchsetzbar, besonders wenn es um das Internet geht. Und gleichzeitig geraten wir in das selbe Dilemma, in dem der Datenschutz längst steckt. Sobald es staaliche oder quasistaatliche Institutionen sind, die die Netzneutralität garantieren sollen, wird sie auch genau von diesen nach gut dünken eingeschränkt werden. So wie es in der Politik keinesfalls als widersprüchlich gesehen wird, Facebooks Likebutton zu verbieten und gleichzeitig die Vorratsdatenspeicherung einzuführen, wird man auch gerade trotz eines Netzneutralitätsgesetzes nicht davor zurückschrecken, Netzsperren einzuführen. Sobald Netzneutralität ein Recht ist, kann man ihm auch Schranken geben, wenn es politisch opportun erscheint. Vielleicht könnte ein Netzneutralitätsgesetz die wirtschaftlichen Begehrlichkeiten der hiesigen Provider einschränken, aber den Meinungsfreiheitsaspekt haben wir damit noch lange nicht gewonnen. Im Gegenteil.

Von Netzneutralitätsbefürwortern wird gerne der Vergleich mit den Straßen angebracht: Die Straße entscheidet auch nicht, ob ein Auto auf ihr fahren darf, egal, ob ein Bankräuber oder ein Familienvater drin sitzt. Aber der Vergleich beginnt zu hinken, sobald wir intelligente Straßen annehmen. Sollten die Straßen eines Tages erkennen können, wer in dem Auto sitzt, wird auch die Politik von den Straßenbetreibern fordern, Bankräuber zum Halten zu zwingen. Und wenn sie grad dabei sind, auch gleich den Falschparker mit.

Das Internet wird – vor allem durch Technologien wie Deep Packet Inspection – zunhemend zur intelligenten Straße. Und weil es das wird, wird der Druck von allen Seiten gegen die Netzneutralität größer. Und damit geraten wir in das Dilemma der Verantwortlichkeit, das alles, was auf der Infrastruktur passiert zu einem Politikcum macht. „Wenn wir wissen, dass X passiert, warum stoppen wir es dann nicht?

Ich gewinne also den Eindruck, dass wir noch gar nicht richtig ausgesprochen haben, was wir mit Netzneutralität wirklich wollen.

Eigentlich wollen wir unintelligente, blinde und dumme Straßen. Das wird sich aber nicht machen lassen, denn die Technologie wird ja nicht wieder weggehen. Gut. Alternativ hätten wir dann gerne Straßen, die zwar wissen könnten, aber aber nicht wollen. Auf lange Frist ist auch das unmöglich, denn so lange wir in einer Demokratie leben, wird das Wegsehen bei gewissen Verbrechen nicht durchsetzbar sein. Die Kinderpornokeule ist noch warm, alles weitere wird folgen.

Es gibt da eine weitere Möglichkeit. Als Mubarak in Ägypten den sogenannten „Kill Switch“ umlegte und fast das ganze Land kein Internet mehr hatte, kamen die Hacker von Telecomix auf eine Idee. Sie besorgten sich Hard- und Software alter Modem-Einwahlserver und faxten die Einwahlnummern an ägyptische Faxgeräte, die sie auf ägyptischen Seiten im Googlecache fanden. Sie stachen viele kleine Löcher in Mubaraks Abschottungspanzer, durch die das Internet scheinen konnte.

Es war nicht viel, aber aber mehr als nichts. Es schaffte ein kleines Stück freies Internet, jenseits der Kontrolle von den staatlichen Strukturen. In dem zugehörigen CRE philosophiert der Telecomix-Aktivist Stephan Urbach darüber, dass sie mit dieser Aktion im Grunde die Souveränität des Ägyptischen Staates verletzt hatten. In anderen Zeiten, unter anderen Umständen hätte sowas Krieg bedeuten können.

Das, was Telecomix dort machte, im kleinen, ist die Lösung, die wir eigentlich haben wollen. Was wir wollen, ist eine Infrastruktur, die nicht zu kontrollieren ist. Wir wollen, dass, sobald sich jemand am Netzes vergreift, es sich andere Weg sucht. Es ist das was John Gilmore schon 1993 – etwas vorschnell – in „The first Nation Internet“ als das Wesen des Internets beschrieb:

The Net interprets censorship as damage and routes around it.

Schön wär’s.

In dem genannten CRE erzählt Stephan Urbach noch, wie sich die Telecomix-Aktivisten auf dem CCC-Camp 2011 zusammenfanden und beschlossen, sich aufzulösen. Sie machten dazu eine Session, um es offziell zu machen. Aber sie lösten sich nicht selbst auf. Sie riefen Cameron an – eine imaginäre, KI-ähnliche Entität – um Telecomix herunterzufahren. Das Sebstbild des „Telecomix Systems“ kann man in diesem Video betrachten. Es ist ein posthumaner Organismus, der im Internet lebt. (Sie haben sich dann doch wieder zusammengerauft.)

Ein wenig in diese Richtung, nur noch größenwahnsinniger, geht auch das Projekt „Global Grid“, dass auf dem 28c3 vorgestellt wurde. Man will selbst ein Netz von Satelliten betreiben, das als Fallback-Internetinfrastruktur dienen kann, wenn durchgeknallte Diktatoren Kill-Switches umlegen – oder auch nur demokratisch legitimierte Parlamente solche Schweinereien wir SOPA beschließen.

Denkt man all das zu Ende, dann gelangt man zu einer Internetstruktur des institutionalisierten, posthumanen Kontrollverlusts, als die einzig wahre Netzneutralität. Keine Macht für niemand! Ein Internet, dass sich jedem Zugriff entzieht. Egal wem, egal mit welcher Legitimation. Ein Internet, dass Netzneutralität aus sich heraus garantiert – und im Zweifelsfall auch schützt. Wir wollen ein Internet, das sich selbst verwaltet, nicht abschaltbar ist, keine Eingriffe gestattet, sich selbst intelligent erneuert und erweitert, nicht mehr von Menschen kontrollierbar ist, sich vielleicht im Zweifel sogar gegen jeden menschlichen Eingriff wehrt.

Ja, richtig gehört, was wir eigentlich wollen, ist im Grunde Skynet.

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