Wikileaks zwischen Aufklärung und Queryöffentlichkeit

Wir leben in vielseitig interessanten Zeiten, das merkt man derzeit noch mehr als sonst. Bei ZeitOnline habe ich den Kontrollverlust als das Leitparadigma der kommenden Dekade bezeichnet und die groben Linien des auf uns zurollenden Kulturkampfes skizziert. Dieser Kampf wird um nichts weniger als die bedingungslose Transparenz gehen, die Wikileaks und all seine Nachfolger uns bescheren werden.

Warum? Weil Wikileaks doch nur ein Vorläufer ist, für das, was da kommen wird. Oder wie Sascha Lobo so schön twitterte:


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Da wird nicht viel Spielraum bleiben. Und es wird das Abwägen nicht geben, das jetzt die Bedenkenträger fordern. Die Frage, wo wir die Grenze ziehen, ist eine sehr akademische. Wikileaks und seine Nachfolger werden anarchische, unkontrollierbare Transparenz überall hinbringen, auch dort, wo sie vielleicht Kontraproduktiv ist und es wird vielleicht selbst dem opensten aller Opengovernancefanatiker zu weit gehen, da darf man sich keine Illusionen machen. (Und dass dabei sehr wohl auch der Datenschutz nicht unberührt gelassen wird, zeigt schon die jüngere Wikileaksgeschichte, auch wenn es der CCC nicht wahrhaben will.)

Ich will jetzt aber gar nicht Wikileaks selbst beleuchten, dafür bitte weitergehen zur Zeit. Stattdessen interessiert mich die Metadiskussion bei den Journalisten und im Web. Denn die ist ziemlich schizophren in ihren Betrachtungen von Wikileaks und zwar ihrem Bezug auf die gute alte Aufklärung.

Wenn jemand wie Leyendecker – wie ich finde relativ hilflos – gegen Wikileaks argumentiert, fällt es natürlich leicht Malte Welding zuzustimmen, dass hier die „Altersimpotenten über die Niedertracht Erektion“ zetern. So viel Wahrheit da dran sein mag (klar ist Wikileaks ein Schlag gegen das journalistische Selbstbewusstsein), so ist Hans Leyendeckers Analyse aber nicht falsch: dadurch, dass die Journalisten eben kein Rohmaterial veröffentlichen, sondern nur von ihnen Kontextualisierbares und Überprüfbares an die Öffentlichkeit heben, dämmen sie die wildesten Spekulationen und Verschwörungstheorien ein und machen sie zu Randphänomen. Es gibt ihn, den „Mainstream“ an Informationen und Deutungen, der ist nicht immer richtig, aber meist doch richtiger, als die meisten nichtprofessionellen Angebote.

Doch egal ob Leyendeckers Kritik, Torsten Kleinz unermüdliches Insistieren auf die Fakten oder Malte Weldings Rant über den selbstgefälligen Journalismus, oder noch deutlicher: beim Personenkult und Geschichtspathos des Don Alphonso – sie alle ordnen Wikileaks in einen klassisch aufklärerischen Kontext ein und oder messen es daran. Und ich meine, da sollte man vorsichtiger sein.

Oberflächlich gesehen ist natürlich nicht zu leugnen, dass sich anhand von Wikileaks der „ordinäre Bürger“ in die Lage versetzt sieht, sich von seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien„. In diesem Fall von dem (Vor-)Urteil und dem Filter des Journalisten als Gatekeeper seiner Aufmerksamkeit.

Doch welcher Art ist diese Mündigkeit? Eine Mündigkeit mit unfassbar vielen Dokumenten umzugehen, die ein einzelner Mensch nur nach monatelanger Vollzeitarbeit auswerten kann. Und so sind wir – beinahe alle von uns – ja doch wieder angewiesen auf die alten Gatekeeper, in diesem Fall den Spiegel, den Guardian und die New York Times, die uns die Informationen vorkauen – oder überhaupt erst einmal kauen.

Wir sehen: die Mündigkeit ist in diesem Fall eine Scheinmündigkeit, denn kaum jemand kann sie für sich in der Realität tatsächlich in Anspruch nehmen. Man wird auch weiterhin auf Filter angewiesen sein, Filter, denen man vertrauen muss.

Hier ergänzt das Netz glücklicherweise den durchaus vorhandenen Flaschenhals durch die eigenen, offenen Strukturen. Durch den plötzlichen Medienüberschuss von Blogs und Twitterer findet sich ein Meer an neuen Filtern, die die Masse an klassischen Medien exponentiell übersteigt und die man sich individueller und selbstbestimmter als je zuvor zusammenstellen kann. Das ist immer noch etwas anderes als echte, Autonomie, Souveränität oder gar „Mündigkeit„, aber zumindest viel mehr, als ein paar Zeitungen und Fernsehsender. Der Zugewinn besteht in der Autonomie bei der Wahl meiner Filter und so dem Verteilen von Vertrauen.

Mit anderen Worten: In Zeiten des Internets ist die „Filtersouveränität“ das eigentliche Telos des aufklärerischen Anspruchs auf Mündigkeit im kantschen Sinne.

Aber was hat das mit Aufklärung zu tun?

Man braucht sich aber nur mal in vielen Blogs umgucken, was zu Assange geschrieben steht. Von wildesten Verschwörungstheorien, Halb- bis Viertelwissen über bedingungslosem Personenkult bis hin zu reihenweise falschen Fakten wird dort alles verbreitet, was überhaupt möglich ist. Im Internet ist der Wahnsinn Methode, dort ist es Mainstream sein eigenes Wahrheitssüppchen zu kochen, so muss man das wohl sehen.

Das, was bei der Filtersouveränität und daraus sich ergebenden „Distributed Realitys“ herauskommt, ist dann eben kein einem allgemeinen „Wahrheitskonsens“ entgegenstrebender Prozess, sondern das komplette Gegenteil. Es ist die Fragmentierung und unendliche Zersplitterung des Diskurses in hunderte oder tausende Netzwerköffentlichkeiten mit ihren je eigenen Wahrheiten.

Torsten Kleinz hat diese Zukunftsvision so beschrieben:

Wir werden aufhören nach den Fakten zu Fragen. Was unsere Freunde, was unsere Leser denken, ist das Entscheidende. Wir reiten den den Hype. Obama ist ein Sellout, die Deutsche Bahn will unsere Innenstädte zerstören, der Klima-Wandel ist eine Erfindung, jeder Polizist hat geheime Marschorder von Teflon-Merkel. Was ihr wollt. Wir werden ständig neue Faktenschnippsel auskramen, die dem Trend-Glauben entsprechen. Die Atkins-Diät ohne Kohlehydrate hat Dir geholfen? Probier die Bullshit-Diät ohne Fakten. Es ist eine kleine Umstellung aber schon nach drei Wochen fühlt sich das Hirm herrlich entschlackt.

Besser kann man die „Distributed Reality“ und Queryöffentlichkeit nicht beschreiben. Zumindest nicht polemisch.

Und hier ist der wesentliche Unterschied zu – zumindest der Intention – eines klassischen Aufklärungsbegriffs unüberwindbar. Deswegen würde ich den Begriff gerne vermeiden, weil er vollkommen falsche Erwartungshorizonte weckt.

Nun mag vielleicht dem einen oder anderen diese Zukunftsvision nicht behagen. Ich selbst weiß auch nicht so recht, wie weit sie uns bringt und was sie uns alles kosten wird. Wir sprechen immerhin von der Auflösung der Masse, der Gruppe, der Kultur, der Nation und jedes Mainstreams und damit die Aufkündigung des Konsens. Nicht eines bestimmten Konsens, sondern der Institiution „Konsens“ an sich. Denn wenn ich mit der einen öffentlichen Meinung nicht einverstanden bin, konfigurier ich mir eben eine andere Öffentlichkeit. Die Filtersouveränität ist das Gegenteil der Einigung. Und es ist mithin die Auflösung jedes „Wahrheitsbegriffs“ – sei er auch noch so relativ.

Ich kann verstehen, dass sich jetzt einige Fragen: „Hä? Und das soll die Zukunftsvision sein, für die ich kämpfen soll? Fick Dich, Wikileaks!

Nun, es ist so: diese Dinge sind längst im Anmarsch und bilden sich aus. Und sie werden eh nicht aufzuhalten sein. Schon gar nicht durch Regierungen, die nun anfangen wollen, Informationsverbreitung weiter zu kriminalisieren. Es werden keine härteren Strafen für Anonymous, keine „strengeren Datenschutzgesetze“, keine Verschärfung des Urheberrechts und vor allem werden keine Netzsperren helfen. Der Kontrollverlust – ich wiederhole mich – ist nicht rückgängig zu machen und jetzt könnte ich sagen, dass man höchstens das Internet abschalten könnte, aber selbst daran glaube ich nicht.

Was solche Einschränkungen der Filtersouveränität höchstens produzieren (oder eher: reproduzieren) sind Machtverhältnisse. Wir sehen heute besser denn je, wie diejenigen mit Macht jede beliebige Informationskontrollnorm heranziehen, um ihre Position verteidigen. Das wird natürlich nicht dazu führen, dass sie langfristig die Sieger bleiben werden, aber es wird dafür sorgen, dass sie uns die nächsten X-Jahre drangsalieren, Innovationen verhindern und Transparenz blockieren werden und zu diesem Zweck teils totalitäre Züge annehmen werden müssen, um ihre überkommenen Vorstellungen mit der Brechstange durchsetzen. Das wird kein Spaß.

Deswegen sollte jeder, der bei Verstand ist, Wikileaks verteidigen, egal, was man von der Plattform oder von Assange hält.

Und was ist mit den düsteren Aussichten in Sachen Query-Öffentlichkeit? Nun, das ist ein evolutionäres Problem, dass vor allem durch die Disruptivität der Entwicklung entsteht. Denn natürlich wird die Vielzahl von Filtern noch weiter steigen und diese werden immer bessere Werkzeuge, Kulturtechniken und Kompetenzen erwerben, denn auch sie wachsen an den Herausforderungen – nur eben nicht sofort. Derzeit sehen wir eine Ungleichzeitigkeit, die in der Tat im Detail unschön anzusehen ist. Aber das ist kein Grund in kulturpessimistischen Elegien zu ergehen. Das wird sich schon früher oder später einrütteln aber bis dahin ist die Kritik an diesem Prozess wichtig.

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