10 Thesen zum Neuen Spiel

SPEX_No347_Cover_Umschlagbogen_v02.inddIch habe einen langen, sehr langen Text für die SPEX geschrieben (Ab S. 116), über die Abhöraffaire und wie sie mit den Entwicklungen, die ich vor einigen Jahren unter dem Label Kontrollverlust zusammengefasst habe, zusammenhängt. Denn im Grunde ist ja nichts passiert. Geheimdienste machen das, was sie immer gemacht haben, sie besorgen Informationen. Nur sind das, was früher Telefonkabel und Tonbandgerät waren eben heute Glasfaser und Rechenzentrum. Die Macht der NSA beruht darauf, dass sie auf genau jenen Kräften surft, die ich als die Treiber des Kontrollverlustes ausgemacht habe.

Zum Ende einer langen, düsteren Analyse komme ich dazu, Lehren aus dem NSA-Fall zu destillieren. Ich weiß, das alles ist noch nicht verarbeitet und ich haue voll rein in die allgemeine Prism-Depression. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle eine Triggerwarnung aussprechen? Jedenfalls habe ich jetzt, mit etwas Abstand, meine Überlegungen dazu wie es jetzt weitergeht noch mal erweitert und will sie hier als 10 Thesen zur Diskussion stellen.

1. Man kann das Spiel nicht gegen den Kontrollverlust spielen.

Game Over. In allen Vektoren des Kontrollverlusts: Die Allgegenwart der Sensoren, die steigende Volatilität der Daten und die nicht einzugrenzende Aussagefähigkeit vorhandener Datenberge durch neue Analysemethoden wirkt Moores Law unerbittlich. Die Geheimdienste werden weiterhin auf dieser Welle surfen. Und nicht nur die amerikanischen. Auch die russischen, chinesischen und alle anderen, die es sich leisten können.

Wer sich dem Kontrollverlust in den Weg stellt, wird zwangsläufig überrollt. Das Spiel um die Kontrolle der Datenströme ist verloren. Das haben nur noch immer nicht alle eingesehen. Wir haben den Krieg verloren, das Spiel ist aus. Lasst uns ein neues Spiel spielen.

2. Datenschutz ist bankrott

Privatsphäre ist tot, die NSA hat lediglich ihren Stempel darunter gesetzt. Je schneller wir das begreifen, desto schneller werden wir wieder handlungsfähig. Alle politischen, technischen und juristischen Rahmen der „Informationellen Selbstbestimmung“ sind nicht mehr vertrauenswürdig und es steht lediglich die Frage im Raum, ob sie seit jeher nur ein vom Staat verabreichtes „Opium fürs Volk“ war, während er jederzeit bereit war, ihre Verletzung von der „richtigen Seite“ hinzunehmen. Datenschutz war immer eine gewährte Privatsphäre.

Datenschutz ist bankrott. Es macht keinen Sinn mehr, Leute davon abhalten zu wollen, Daten zu sammeln und/oder auszuwerten. Wer mit genug Macht ausgestattet ist, wird sich über Regelungen hinwegsetzen, nur die Zivilgesellschaft wird in ihren Möglichkeiten beschnitten. Im Neuen Spiel ist Datenschutz das Monopolrecht auf Datenauswertung für diejenigen, die sich eh nicht an Gesetze halten.

3. Der Kampf gegen Überwachung muss weiter gehen.

Ziel der Überwachung ist Kontrolle. Der erste FBI-Chef J. Edgar Hoover führte seinerzeit Akten über jeden wichtigen Politiker, jeden mächtigen Wirtschaftsboss und alle möglichen Journalisten in den USA. Überträgt man Hoovers Ruchlosigkeit auf die Möglichkeiten der heutigen NSA, ist ähnliches in globalem Maßstab vorstellbar. Eine solche Machtakkumulation droht nicht nur die amerikanische Demokratie auszuhebeln, sondern bedroht auch die Integrität der Politik auf der ganzen Welt. Auch im Neuen Spiel kämpfen wir gegen Überwachung. Aber mit anderen Mitteln und anderen Zielen.

Totale Kontrolle kann nur entstehen, wenn es ein Ungleichgewicht der Information gibt. Das heißt, 1. dass die Dienste mehr über mich wissen, als ich über sie – das macht sie unangreifbar. Und außerdem heißt es, dass die Dienste mehr über mich wissen, als alle anderen über mich wissen können – dadurch werde ich erpressbar. Die Macht der Dienste basiert auf diesen Asymmetrien. Sie sind mir einen Schritt voraus, sie können die Deutungshoheit beanspruchen, sie können mich im Zweifel erpressen oder haben gleich die Beweise für die Anklage zur Hand, während ich ihrem Informationsvorsprung hilflos ausgeliefert bin. Im Neuen Spiel gilt es, diese Asymmetrien anzugreifen.

4. Das Neue Spiel heißt Transparenz und Vernetzung.

»Snowden besitzt genügend Informationen, um der US-Regierung innerhalb einer Minute mehr Schaden zuzufügen, als es jede andere Person in der Geschichte der USA jemals getan hat«, ließ der Guardian-Journalist Glenn Greenwald, mit dem Snowden in engem Kontakt steht, in einem Interview durchblicken. Bradley Manning, Julian Assange und Edward Snowden spielen das Neue Spiel. Es heißt Transparenz und Vernetzung. Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnten einzelne Menschen Staaten auf so grundsätzliche Weise herausfordern. Noch nie konnten sich Menschen so aktuell und umfassend informieren. Noch nie konnten sie sich so schnell und effektiv organisieren, zu Protesten, Petitionen oder gar Ausschreitungen. Die Zivilgesellschaft hat keinen Grund, sich machtlos zu fühlen. Im Gegenteil. Von Tahrir bis Taksim beginnen die Menschen die neuen Möglichkeiten gerade erst zu erahnen.

Und diese neuen Möglichkeiten liegen in der Transparenz. In Deutschland haben #Aufschrei, das Refugeecamp, Guttenplag und viele andere Projekte gezeigt, wie man mit Daten (ihrer Erzeugung, Vernetzung und Auswertung) Aktivismus betreiben kann. Einige spielen bereits erfolgreich das Neue Spiel, aber all das ist erst der Anfang. Open Data, Open Source, Open Everything sind die emanzipativen Forderungen der Zukunft, die es erlauben werden, die Mächtigen besser zu kontrollieren, sie effektiver in die Schranken zu weisen oder gar auszutauschen.

5. Privacyeinstellungen sind böse.

Auf Facebook gibt es keine Privatsphäre. Privacyeinstellungen, der bequeme Weg der Privatsphäre, den Facebook und co. anbieten, ist wie der Datenschutz eine gewährte Privatspäre. Wenn wir sie annehmen, geben wir demjenigen, der sie uns gewährt, Macht. Wir wissen aber heute, dass die NSA mitchattet, wenn wir mit Freunden chatten. Wenn wir Bilder nur für Freunde teilen, teilen wir sie mit Freunden und der NSA. Wenn wir Dinge unter einer gewährten Privatsphäre teilen, teilen wir sie mit der NSA. Und jedes Bit, auf das die NSA Zugriff hat, der Rest der Welt aber nicht, mehrt ihre Macht.

Traut nicht dem Versprechen der Privatsphäreeinstellung. Seid öffentlich, traut euch, angreifbar zu sein. Wenn ihr es für die Öffentlichkeit seid, dann seid ihr es nicht mehr für die Geheimdienste. Im Neuen Spiel hat man die Wahl zwischen Öffentlichkeit oder der Komplizenschaft mit den Diensten.

6. Es gibt keine Privatsphäre mehr, nur noch Verschlüsselung.

Und das ist nicht das selbe. Verschlüsselung schafft im besten Fall Residuen der Vertraulichkeit, temporär, angreifbar, unabgeschlossen. Sie sind aus unterschiedlichsten Gründen keine Antwort auf die Dienste, aber wenn man privat kommunizieren will, ohne auch noch den Diensten zusätzliche Macht zuzuspielen, kann Verschlüsselung nützlich sein. Im Neuen Spiel ist es ein Gebot der Gastfreundschaft, verschlüsselte Kommunikation anzubieten.

7. Der Cypherpunk ist tot, der Hacker nackt.

Die Idee und der Pathos des Cypherpunk sind verflogen. Seine Waffen sind stumpf gegen die NSA, die Legende ist auserzählt. Der Data Scientist hat den Hacker nackig gemacht. Die Dienste können nicht in die verschlüsselten E-Mails gucken? Macht ja nichts. Es reicht ihnen zu wissen, in welcher Netztopographischen Nachbarschaft der Hacker kommuniziert. Mit wem ist er wie eng befreundet, welchen Tagesrhytmus pflegt er, welche Gespräche drehen sich um Arbeit, welche um Freizeit, wie häufig hat er Kontakt zur verdächtigen Person X, wer ist sein Weisungsbefugter, wer beeinflusst ihn und wo hält er sich auf?

Die Hacker, die versuchen, sich dagegen zu schützen, werden Handlungsunfähig. Sie verzichten auf mobile Kommunikation, öffentliche Auftritte und auf die Mobilisierungs- und Organisationsmöglichkeiten der Social Networks. Surfen tun sie nur noch sehr langsam über Tor und einloggen dürfen sie sich fast nirgends, was ihnen viele Informations- und Vernetzungsquellen versperrt. Nichts könnte heute eine soziale Bewegung effektiver lähmen, als eine solche Selbstbeschneidung. Im Neuen Spiel heißt es: Verstecken oder politisch handlungsfähig bleiben.

8. Die Grenzen der Überwachung verlaufen nicht zwischen den Staaten, sondern zwischen oben und unten.

Amerika ist nicht der Feind, Schland.Net ist nicht die Antwort. Wir haben es mit einer internationalen Verschwörung der Regierungen gegen ihre Bevölkerungen zu tun. Man spioniert sich gegenseitig aus und tauscht anschließend die Ergebnisse. So langsam wird uns bewusst, dass ein freies Internet mit dem Kontrollanspruch des Staates langfristig nicht zu vereinbaren sind. In dieser systemischen Inkompatibilität tun sich die Fronten des Neuen Spiels auf. Es ist der Nationalstaat selbst, der sich in Komplizenschaft mit seinen Leidgenossen gegen seine erodierende Macht zur Wehr setzt. Er darf nicht gewinnen.

Es ist deswegen Quatsch eine deutsche Öffentlichkeit gegen den amerikanischen Staat ausspielen zu wollen. Vielmehr schaffen die Snowdenleaks durch das Internet eine zivile Weltöffentlichkeit. Sie war laut Snowden der Adressat seiner Enthüllungen und als solche sollten wir auf die Enthüllungen auch reagieren. Das Neue Spiel heißt „Vernetzte Weltöffentlichkeit vs. Staaten“. Dazwischen stehen die Unternehmen, gespalten zwischen ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kunden und den Gesetzen ihres Landes. Im Neuen Spiel wird es auch darum gehen, sie auf unsere Seite zu ziehen.

9. Wir brauchen aktivistisches Big Data.

Das kann alles nur der Anfang sein. Wir müssen aufrüsten. Wir brauchen mehr Wistleblower, mehr Kampagnen, mehr Daten, mehr Vernetzung und vor allem brauchen wir mehr und bessere Datenauswertung. In Deutschland zeigt OpenDataCity wie man bereits mit intelligentem Datenjournalismus politisch agieren kann. In Italien haben die Behörden gezeigt, wie man mit etwas Datenauswertung sogar die CIA ärgern kann. Wir brauchen mehr davon in den Händen der Zivilgesellschaft. Wir brauchen aktivistisches Big Data.

Big Data hilft bereits auf vielen Ebenen die Gesellschaft zu verbessern. Wir brauchen aber auch Big Data, um der Zivilgesellschaft die neuen Möglichkeiten in die Hand zu geben, über die die Dienste längst verfügen. Die Software ist zum großen Teil Open Source. Doch das Know How und die Daten sind knapp. Wo bleiben die Big-Data-Hacker des CCC? Wenn noch viele Daten geleakt werden, wird es Leute brauchen, die fähig sind, sie auszuwerten. Wir brauchen Big Data, um die Regierung zu beobachten, wir brauchen Big Data alleine schon, um die Ergebnisse anderer Institutionen überprüfen zu können. Im Neuen Spiel müssen wir die Berührungsängste mit der Daten-Technologie überwinden, wie der CCC es in 80ern mit dem Computer vorgemacht hat.

10. Das Neue Spiel wird besser.

Das alte Spiel ist verloren, aber wir spielen jetzt ein besseres. Klar, auch hier haben die Mächtigen derzeit die Nase vorn. Aber bereits Snowden hat die NSA nachhaltig gelähmt und wir haben unsere Möglichkeiten nicht mal annähernd ausgereizt. Die NSA hat jährlich ca. 10 Milliarden Dollar Budget zur Verfügung, um uns zu überwachen. Doch wir, die Restweltgesellschaft, geben allein dieses Jahr 3,7 Billionen Euro für Informationstechnologie aus. Im neuen Spiel haben wir mehr Köpfe, mehr Prozessorkerne und sogar mehr Daten zur Verfügung, als die NSA je haben könnte, und mit dem Internet haben wir ein Instrument, all diese Kräfte zu organisieren. Es wird Zeit für eine neues ziviles Selbstbewusstsein.

Das Neue Spiel wird anspruchsvoller als das alte. Vor allem müssen wir uns erst selbst in die neue Rolle einfinden. Wir müssen Gewissheiten aufgeben, Sicherheiten abhaken, in vielen Dingen umdenken. Aber das Neue Spiel ist keinesfalls aussichtsloser als das Alte. Im Gegenteil. Alles auf Anfang.

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