Die Geschichte der Digitalisierung in fünf Phasen

Es gibt kein englisches Wort für “Digitalisierung”. Dort spricht man je nachdem von „Technology“, “Internet”, “Artificial Intelligence” oder „Innovation“ und adressiert damit auch jeweils andere Dinge und unterschiedliche Debatten. In Deutschland hat sich der Begriff hingegen vor allem in der Politik durchgesetzt und bildet eine Klammer für all die strukturellen Anpassungsprozesse – politische, wirtschaftliche, kulturelle – die die Gesellschaft durch den fortschreitende Einzug der digitalen Technologie in unseren Alltag nach sich zieht.

Es ist ein Vorteil der deutschen Sprache, diese doch sehr heterogenen Prozesse als ein großes Ganzes betrachten zu können. Es hat aber auch Nachteile, da die schier unübersehbare Größe des Phänomens einschüchternd, gar erdrückend wirken kann.

Klar ist, die Digitalisierung wälzt die gesellschaftlichen Strukturen um. Aber um zu klären, wie das geschieht – um sich einen Überblick zu verschaffen – muss man den Monolithen „Digitalisierung“ zunächst wieder aufsprengen. Nicht in seine vielfältigen Bestandteile (dann würde es wieder unübersichtlich), sondern systematischer. Zum Beispiel historisch.

Was ich hier versuchen möchte, ist eine “narratologische Rampe” zu bauen. Ich teile die Geschichte der Digitalisierung in vier Phasen ein, die nacheinander von den 80er Jahren bis heute reichen. Die Idee ist, bei der Narration der vier Phasen genügend Beschleunigung generieren, um über die Rampe ein Stück weit in die Zukunft – also die fünfte Phase – zu schießen, das heißt: eine anschlussfähige Spekulation zu wagen.

Die Phasen wären folgende:

  1. Die frühen Netzwerk-Utopien (1985 – 1995)
  2. Remediation (1995 – 2005)
  3. Kontrollverlust (2005 – 2015)
  4. Das Neue Spiel (2015 – 2025)
  5. Restrukturierung (2025 – 2035)

Wir haben also die Rampe, brauchen wir noch die Beschleunigung. Der Antrieb ist die “historische Dialektik” die den Phasen zugrunde liegt. Die Annahme hierbei ist, dass jede Bewegung im Kern ihre Gegenbewegung immer schon mit hervorbringt. Jede neue Phase ist somit immer die Synthese aus der Bewegung (These) und Gegenbewegung (Antithese) der vorherigen Phase.

Erste Phase: Frühe Netzwerk-Utopien (1985 – 1995)

Natürlich lässt sich auch die erste Phase, mit der ich hier beginnen möchte, auf eine solche historische Dialektik zurückbeziehen, auch wenn ich diese Vor-Phase hier nur kurz anreißen möchte: Die 70er Jahre waren in Sachen Digitalisierung geprägt von … eigentlich waren sie noch gar nicht von Digitalisierung geprägt. Aber Computer gab es immerhin schon, allerdings waren sie noch so groß wie überdimensionierte Kühlschränke und standen vornehmlich in Universitäten, militärischen Einrichtungen und Großkonzernen. IBM hatte sowas wie ein Monopol auf Computing und ihre Mitarbeiter liefen in Schlips und Anzug herum, denn sie hatten es nur mit Business- oder Regierungs-Kundschaft zu tun. Mit Computern kamen in dieser Zeit nur Leute in dafür spezialisierten Berufen in Berührung, die meisten Menschen kannten sie nur aus Erzählungen.

Die erste Phase war also insofern eine Gegenbewegung zu diesem Zustand, als die Revolution des Personal-Computers (PC), die sich Anfang/Mitte der 80er Jahre Bahn brach, explizit als Angriff auf die Vorherrschaft der grauen Männer mit ihren Großcomputern verstanden wurde. In der Tat erzählt die Legende von Steve Jobs, Steve Wozniak und der Gründung von Apple genau dies als Heldenreise zweier Underdogs, die dem großen, bösen IBM das Fürchten lehren. Es war die Zeit des Aufbruchs, der Demokratisierung des Computing. Mit dem Apple Macintosh Computer sollte laut Werbung „1984 nicht wie 1984 werden“1. Mit dem Personal-Computing wurde aus der unheimlichen, unzugänglichen Kriegstechnologie Computer das Emanzipations-Werkzeug des modernen Bürgers. So jedenfalls war das Selbstverständnis des damaligen Aufbruchs.

In den 80er Jahren fingen außerdem die frühe Onlinedienste wie das Usenet, AOL und Compuserve an, die PCs miteinander zu vernetzen. In diesen frühen Netzcommunities wie “The WELL” trafen sich die „Early Adopter“ und entwickelten kühne Thesen über die vernetzte Zukunft der Gesellschaft.2 Mitte der 90er, also am Ende dieser Ära kommt schließlich das Internet selbst in viele Haushalte, während zeitgleich das World Wide Web erfunden wird.

Für diesen Aufbruchsmoment steht nicht nur die Hackerszene, die sich entlang der Entstehung des PCs kristallisierte, sondern auch die vielen anderen gesellschaftlichen Diskurse, die das „Netzwerk“ als neue Strukturmetapher dankbar aufnahmen. Gille Deleuze und Felix Guttari zeigten, dass Kultur anhand des netzwerkartigen Wurzelwerks „Rhizome“ auch dezentral und nicht-hierarchisch gedacht werden kann.3 Am Centre de Sociologie de l’Innovation in Paris arbeiteten Bruno Latour und andere an einer wissenschaftstheoretischen Beschreibungsmethode, um Interaktions-Zusammenhänge darstellbar zu machen, bei denen der Mensch nur noch eine agierende Instanz unter vielen ist. Die sogenannte „Akteur Netzwerk Theorie“ erlaubte, Makroperspektive und Mikroperspektive im Netzwerkschema zu transzendieren und so komplexe Zusammenhänge abzubilden und zu untersuchen.4 Schließlich brachte Manuel Castells die sich unter dem Einfluss vernetzter Kommunikation verändernde Gesellschaft auf den Punkt, indem er ihr als „Network Society“ attestierte, Hierarchien zu verflachen und (Unternehmens- und Institutions-)grenzen operativ überschreitbar zu machen.5

Aus dem Soziotop um The WELL entwickelte sich derweil nicht nur das einflussreiche Wired-Magazin, sondern auch die „Electronic Frontier Foundation“, dessen Mitgründer John Perry Barlow 1996 den versammelten Staatschefs Davos zurief, dass ihre „Giganten aus Fleisch und Stahl“ im „Cyberspace“ nichts zu sagen hätten.6

Es war die Zeit, als man dachte, dass dieser „neue Ort des Geistes“ ein Ort mit eigenem Recht sei, ein utopischer Raum, in dem die weltliche Identität keine Rolle mehr spielte. In der Anonymität des Netzes würden akademische Grade, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und Sexualität keine Rolle mehr spielen und stattdessen Wort gegen Wort abgewogen werden.7 Dezentralität, Hierarchiefreiheit, Offenheit/Konnektivität und totale Kommunikationsfreiheit waren die ideologischen Grundsteine auf denen eine neue, bessere Gesellschaft gebaut werden sollte.

Natürlich war längst nicht alles so rosig, wie sich die Netz-Utopisten das damals ausmalten. Die Gegenbewegung formte sich aus den Leuten, die im Internet nicht einen post-identitären, utopischen Raum, sondern vor allem einen neuen Markt sahen. Und so wuchs – zunächst langsam, aber gegen Ende immer deutlicher – auch die „New Economy“ im Schatten der Netzdiskurse heran. Die Kommerzialisierung erzwang eine Rückbindung des Cyberspace an die physische Welt. Um E-Commerce zu machen, braucht es dann eben doch wieder (bürgerliche) Identitäten und alles, was sich daran knüpft. Im Zuge der Kommerzialisierung passte sich das Netz den Erfordernissen der realen Welt immer weiter an, womit das nächste Paradigma eingeläutet wurde.

Zweite Phase: Remediation (1995 – 2005)

Remediation bezeichnet die Abbildung eines Mediums durch ein anderes Medium. Dass das Medium die Botschaft sei hatte Marshall McLuhan bereits anhand der ersten elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen festgestellt.8 Doch auch das Internet würde sich zunächst daran machen, die bisherigen Medien zu imitieren und bereits hier und da obsolet zu machen.

Während die New Economy noch in den Kinderschuhen steckte, digitalisierte sich zunächst der Briefverkehr. 1995 bekam man noch deutlich mehr physische Post als E-Mails aber das drehte sich sehr schnell um. Das Web wuchs und wuchs und wurde immer unübersichtlicher. Yahoo! beanspruchte daher der digitale Katalog des neuen Mediums zu werden und etwa um 2000 herum wurden Websites zu Blogs – eine Art persönliche Zeitungen im Internet.

Als sich um die Jahrtausendwende die Träume der New Economy fürs erste zerschlugen und die vielen tausend Startups, die sich aufgemacht hatten, das neue, gelobte Land ökonomisch urbar zu machen, verschluckt wurden, überlebten vor allem Services, die mit der analogen Welt im direkten Konkurrenzverhältnis standen. Vielleicht wirkte die Tatsache, dass sie eine Entsprechung in der realen Welt hatten als Legitimation ihrer Bemühungen.

Doch nach dem Crash ging es weiter mit der Remediation: Mit Youtube und iTunes digitalisierten sich das Fernsehen und die Plattensammlung, mit Skype die Telefonie und mit Amazon sogar der Einzelhandel.

Gegen Ende der Remediations-Phase wurde auch die Gegenbewegung sichtbar. Es entstanden neue Medien, die diesen Namen auch verdienen. Medien, die nicht versuchten, ihre analoge Pendants zu ersetzen, sondern die in ihrer Struktur erst durch das Internet möglich wurden. Der Aufstieg der Suchmaschinen und insbesondere Google, soziale Booksmarkingdienste wie del.ico.us und Fotoplattformen mit Tagging- und Sharingfunktion wie Flickr boten eine völlig neue Form an, mit digitalen Objekten zu arbeiten, sie zu teilen, weiterzuleiten und darüber zu kommunizieren. Und natürlich entstanden hier die sozialen Netzwerke wie Friendster, Myspace und schließlich Facebook und eroberten die Onlinezeit der Nutzer/innen. „Web 2.0“ war das Schlagwort, das 2005 die Remediation-Phase des Internets für beendet erklärte und ein neues, ein soziales Netz ausrief. Die Digitalisierung findet gewissermaßen zu sich selbst – und verliert damit auch ihre Harmlosigkeit.9

Dritte Phase: Kontrollverlust (2005 – 2015)

Genau genommen ist das Paradigma des Kontrollverlusts10 sehr viel früher eingeläutet worden, als 2005, aber als Napster 1999 das Licht der Welt erblickte, war noch nicht klar, wie prophetisch es den Fortgang des Netzes vorwegnehmen sollte.11 Das, was die Musikindustrie damals mit dem Filesharing durchmachte, stand bald schon der Filmbranche bevor, dann den Nationalstaaten und schließlich uns allen. Doch der Verlust über die Kontrolle von Daten- und Informationsströme nimmt erst ab Mitte der Nullerjahre wirklich Fahrt auf. Einer der Katalysatoren ist natürlich Social Media, wie das Web 2.0 alsbald genannt wurde. Auf einmal fingen die Leute an, alle möglichen Daten in das Internet zu laden, selbst die privatesten. Als uns ab 2007 dann mit dem Smartphone ein mit allerlei Sensoren und ständiger Internetverbindung ausgestatteter Hosentaschen-Computer an das Internet bindet, das „Internet of Things“ unsere Wohnräume und Städte vernetzt und all dieser Daten in „der Cloud“ – also auf irgendwelchen Rechnern im Internet – landeten, stand dem allgegenwärtigen Kontrollverlust nichts mehr im Weg.

Die Kontrollverlust-Phase ist die Zeit der Wikileaks-Enthüllungen, die Banken, Regierungen, Parteien und sonstige Machtapparate nackt hat stehen lassen. Es ist die Zeit von Big Data, der Auswertung von großen Datenmengen, aus denen ungeahnte Informationen aus vorhandenen Datenmassen destilliert werden. Es ist schließlich auch die Zeit von Edward Snowden, der zwar die Geheimdienste nackt machte, aber nur um zu zeigen, dass wir alle längst nackt sind. Nach Snowden folgten die Shadow Brokers, eine Hackergruppe, die die geheimsten Hackingtools der NSA offenlegten während Wikileaks dasselbe mit denen der CIA machte. Doch es traf nicht nur die Geheimdienste. Pentagon Papers, Cable Leaks, Strafor Leaks, Panama Papers, Swiss Leaks, Luxemburg Leaks, Syria Files, Offshore Leaks, Football Leaks … Leaken ist zum Volkssport geworden und dabei sind die zahllosen Hacks noch nicht mal mit aufgezählt.

Es wurde klar, dass niemand verschont bleibt, dass wir alle – Menschen, Unternehmen, Regierungen und Institutionen – die Kontrolle verloren haben.

Zugleich finden sich schon in dieser Phase Kontrollverlust-Phänomene zweiter Ordnung. Die Occupy-wallstreet-Proteste, der arabische Frühling, Proteste in Spanien und Tel Aviv. Die Welt schien aus den Fugen und die Digitalisierung hatte einen nicht geringen Anteil daran. So wie Daten außer Kontrolle geraten, so haben die digitalen Werkzeuge eine neue Form der Spontan-Organisation von Menschen und Informationen ermöglicht, die sich wiederum in eruptiven „Smartmobs“ weltweit Bahn brachen und Regierungen in Bedrängnis und oft sogar zu Fall brachten.

Doch auch die Gegenbewegung wird deutlich. Neue Kontrollstrukturen haben sich über das Internet gelegt. Der Napster-Schock, der die Phase des Kontrollverlusts einleitete, wurde schließlich durch neue, kontrollierbare Vertriebsstrukturen wie denen von iTunes und später Spotify eingehegt. Google schaffte derweil Ordnung im Chaos im Web und wuchs zum globalen Konzern heran. Facebook – jetzt bitte nicht lachen – brachte die Privatsphäre als „Privacy-Einstellung“ ins Internet.12 Aus den sympathischen, kleinen Web2.0-Diensten sind mächtige Plattformen geworden, die mit ordnender Hand Inseln der Kontrolle im Meer des Kontrollverlusts schaffen. Der Aufstieg der Plattformen als neue Kontroll- aber auch als unheimliche Machtapparate leitet die nächste Phase der Digitalisierung ein.

Vierte Phase: Das Neue Spiel (2015 – 2025)

Ich habe die aktuelle Phase nach meinem Buch, „das Neue Spiel“13 benannt, denn schon beim Schreiben 2014 hatte ich das Gefühl, dass gerade etwas neues beginnt, das bereits nicht mehr (nur) durch das Kontrollverlust-Paradigma bestimmt ist. Das liegt daran, dass bereits bestimmte Individuen, Unternehmen und Institutionen Strukturanpassungen für die neue Situation vorgenommen hatten und die Macht der Plattformen ist nur ihre plakativste Ausformung.

Der Erfolg des Plattform-Paradigmas basiert einerseits auf „Kontrolle als Produkt“ und andererseits auf dem Netzwerkeffekt, der die Netzwerke immer nützlicher macht, je mehr Leute daran teilnehmen.14 GAFA (Google, Apple Facebook und Amazon) sind ohne Zweifel die dominierenden Player unserer Zeit aber mit Airbnb, Uber, Foodora, Deliveroo und co. hat sich das Plattform-Prinzip längst aus den Grenzen der reinen Onlinewelt befreit und gestaltet die Welt im Ganzen um. Mit den dezentralen und anti-hierarchischen Netz-Utopien der ersten Phase hat das alles nur noch wenig zu tun.

Aber es geht nicht nur um die Plattformen. Diese Phase ist grundsätzlich davon geprägt, dass einzelne Menschen und Institutionen die Dynamiken des Kontrollverlusts durchschaut haben und neue Strategien entwickelt haben, in dieser Welt ihre Ziele zu erreichen.15 Wer keine Kontrolle über die Datenströme hat, kann zum Beispiel nicht mehr verhindern, dass Informationen an die Öffentlichkeit kommen. Zensur ist somit nur mit sehr viel Aufwand überhaupt durchzuführen. Man kann aber die Institutionen der Informationsverbreitung wie die Massenmedien diskreditieren, indem man ständig Falschnachrichten streut und echte Nachrichten als Fake News bezeichnet, bis niemand mehr weiß, was wahr und was falsch ist. Niemand hat das besser verstanden als Wladimir Putin, der mittels massenhafter Desinformations-kampagnen eine ganz neue Form der informationellen Kriegsführung ins Werk setzt. In einer Zeit, in der es keine Privatsphäre mehr gibt, ist es eben nicht der tadellose Politiker, der sich durchsetzt, sondern der, dessen Ruf so ruiniert ist, dass Skandale ihm nichts mehr anhaben können. Donald Trump ist “antifragil” gegenüber der Öffentlichkeit. Je mehr Skandale und Kritik er auf sich vereint, desto stärker wird er.16

Die Strategien im Neuen Spiel sind andere, als die des alten und wer sie anwendet, kann unerwartete Gewinne erzielen. Der Kontrollverlust ist somit nicht mehr ganz ein Kontrollverlust – jedenfalls nicht mehr für alle. Doch je mehr Leute an den neuen Hebeln reißen, desto größer wird das Chaos, das sie anrichten.

Hier sehe ich auch schon die Gegenbewegung zum vorherrschenden Paradigma. Wie das Jahr 2016 gezeigt hat, hat die Digitalisierung noch ganz andere Effekte auf die Gesellschaft. Sowohl die Präsidentschaftswahl in den USA, als auch die Brexit-Volksabstimmung im Vereinigten Königreich verweisen auf Entwicklungen, die dem „Kontrollverlust zweiter Ordnung“, den wir bereits bei der Occupy-Bewegung und im arabischen Frühling am Werk sahen, sehr ähneln, allerdings eine deutlicher zu erkennende Struktur aufweisen. Der Aufruhr hat sich stabilisiert. Während in der Phase des Kontrollverlusts die “Smart Mobs” die Weltgeschichte aufwirbelten, aber auch schnell wieder in alle Richtungen verwehten, brechen im Neuen Spiel deutlich zu erkennende Demarkationslinien hervor, die quer zu allen bisherigen politischen Spektren verlaufen. Genausowenig wie Trump ein typischer Republikaner ist, lässt sich die Brexitfrage entlang der etablierten politischen Parteien klären. Und während die AfD Stimmen bei allen deutschen Parteien fischt haben diese Probleme, sich klar in der Flüchtlingsfrage zu positionieren. Diese neuen Demarkationslinien wirken zudem unüberwindbar und unversöhnlich. Quer zu den etablierten Parteien haben sich gewissermaßen politische Stämme gebildet, die sich gegenseitig nicht mehr als Interessenvertreter unterschiedlicher Milieus und somit als politische Gegner sehen, sondern als Feinde der eigenen Identität.

Dieser „digitale Tribalismus“ ist auch der Treiber hinter Fake News und Online-Belästigungs-Kampagnen, er wird gefüttert aus einer neu erwachten psychologischen Prädisposition des Menschen, die sich im Internet ungehindert entfalten kann.17 Der Tribalismus ist nebenbei auch der Hebelpunkt für russische Hacker und andere Manipulationsversuche. Am digitalen Tribalismus lässt sich zudem die Ohnmacht der eben noch allmächtig gewähnten Plattformen studieren, die ihm wie hilflose Zauberlehrlinge gegenüberstehen. Der Tribalismus ist der Gegentrend zum Neuen Spiel und und ist als “Kontrollverlust zweiter Ordnung” mit den entwickelten Kontroll-Strategien nicht einhegbar. Er wird das neue Paradigma der nächsten Phase der Digitalisierung einläuten.

Fünfte Phase: Restrukturierung (2025 – 2035)

An dieser Stelle verlassen wir die Rampe und schießen in einer ballistischen Bahn in die Spekulation. Wir wissen nicht, wie der Kampf Plattformisierung vs. Tribalisierung ausgehen wird, welche Volten er noch schlagen wird und welche Institutionen dabei noch in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber ich gehe davon aus, dass die Tribalisierung vorerst nicht eingehegt werden kann und somit das folgende Paradigma wesentlich mitbestimmen wird. Dass es also einen Kontrollverlust zweiter Ordnung geben wird, der die Gesellschaft noch deutlicher durchrütteln wird, als der der ersten Ordnung. Dieses Szenario drängt sich auch deswegen auf, weil die Historie analoge Phänomene in vergleichbaren Situationen hervorgebracht hat. Vereinfacht zusammengefasst: Ein neues Medium tritt auf den Plan und verschiebt die Grenze des praktisch Kommunizierbaren, was so lange zu gesellschaftlicher Unruhe führt, bis neue Institutionen, Denk- und Verhaltensweisen etabliert sind, die einen neuen Modus des Zusammenlebens ermöglichen.18 Es ist eine Restrukturierung von Gesellschaft. Eine solche Restrukturierung sage ich für die Zeit von 2025 bis 2035 voraus.

Man kann das gut am Buchdruck zeigen: Wie das Internet heute, hat auch der Buchdruck die Gesellschaft grundlegend verändert. Heute schauen wir darauf zurück und bewerten diese Veränderung zumeist positiv. Der Buchdruck brachte allgemeine Lesekompetenz, eine Demokratisierung und Mehrung des Wissens. Wenn wir ein kulturgeschichtliches Phänomen mit dem Buchdruck verbinden, dann ist es die Aufklärung. Das ist zwar nicht falsch, aber unterschlägt den Fakt, dass zwischen der Erfindung des Buchdruck und Aufklärung rund 250 Jahre Chaos, Krieg und Zerstörung lagen. Etwas vereinfacht lässt sich vom Buchdruck zur Reformation über die Bauernkriege direkt zum 30jährigen Krieg eine lineare Wirkungskette ziehen, die aus der Distanz wie die gerade skizzierte Restrukturierung von Gesellschaft aussieht und die erst im Nachgang die Aufklärung möglich machte.19

Nimmt man den Buchdruck als Analogie und bettet die bisherigen Überlegungen zur Digitalisierung in den Prozess ein, ergibt sich folgendes Bild: Das alte Mediensystem, unsere Ideen von Öffentlichkeit und gesellschaftlichen Diskurs, die repräsentative Demokratie und vieles mehr wurde in einer Zeit konzipiert, in der nur eine geringe Zahl an Menschen eine geringe Menge an Informationen über eine geringe Distanz verbreiten konnte. Dieses System trifft nun auf überwältigende Mengen weltweit außer Kontrolle geratener Datenströme und auf eine ungekannte Organisationsfähigkeit von Menschen und Informationen. Es ist nur folgerichtig, dass dadurch Machtstrukturen radikal in Frage gestellt werden, ohne dass bereits klar wäre, was sie ersetzen wird. An diesem Punkt sind wir.

Das Chaos, das durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelöst wurde, stellte vor allem die Herrschaft der katholischen Kirche in Frage. Mit der Reformation wurden ihr plötzlich mehrere Gegenkonzepte zur Seite gestellt und in der blutigen Auseinandersetzung, die das provozierte, wurde ein neues Paradigma des Zusammenlebens geschaffen. Der souveräne und bürokratische Staat hatte sich bereits in Frankreich unter Ludwig dem XIV entwickelt und wurde nach dem Westphälischen Frieden zum Vorbild europäischer Staatlichkeit. Aber Frieden wurde möglich, da dieses neue Herrschaftsinstrument säkularisiert werden konnte, also nicht einseitig an eine bestimmte Form des Glaubens gekoppelt werden musste. Der souveräne, säkulare und bürokratische Staat erlaubte einen neuen Versuch des friedlichen Zusammenlebens und wurde schließlich zur Bedingung der Möglichkeit von Aufklärung und Demokratie.

Eine neue Institution, die einerseits machtvoll genug ist, die diversen Kontrollverluste des neuen Mediums wieder in friedliche Bahnen zu lenken, aber gleichzeitig eine Legitimation, ähnlich der des Nationalstaats hat, könnte auch am Ende unserer Restrukturierungs-Phase stehen. Wie dieses Konstrukt aussehen wird, kann ich nur raten. Aber mein Tipp wäre, die Entwicklung des chinesischen Staatsmodells genau im Auge zu behalten, das die staatliche Souveränität versucht mit dem neuen Plattform-Paradigma in einklang zu bringen.20 Aber auch die EU könnte hier interessante Impulse liefern, falls sie aus ihrer Nationalstaatserstarrung einmal aufwacht. Vielleicht müssen wir auch wieder viel kleiner denken und die zivilen Grassroots-Organisationen in Athen, Barcelona oder in den kurdisch kontrollierten Gebieten Iraks und Syriens in den Blick nehmen.21 Ich bin mir jedenfalls sicher, dass irgendwo da draußen bereits die Grundsteine der großen Restrukturierung gelegt werden, denn seit William Gibson weiß ich: die Zukunft ist längst da, sie ist nur ungleich verteilt.

  1. Der ikonische Apple Werbespot, der zum Super Bowl 1984 ausgestrahlt wurde, gehört ohne Frage zum popkulturellen Erbe der Digitalisierung. https://www.youtube.com/watch?v=_VvW_uWSbX0
  2. Vgl. Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture.
  3. Félix Guattari, Gilles Deleuze: A Thousand Plateaus – Capitalism and Schizophrenia.
  4. Bruno Latour: Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford.
  5. Manuel Castells: The Information Age: Economy, Society and Culture.
  6. John Perry Barlow: A Declaration of the Independence of Cyberspace, https://www.eff.org/cyberspace-independence
  7. Donna Haraway: A Cyborg Manifesto, https://web.archive.org/web/20120214194015/http://www.stanford.edu/dept/HPS/Haraway/CyborgManifesto.html.
  8. Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man.
  9. Tim O’Reilly: What Is Web 2.0 – Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software, https://www.oreilly.com/pub/a/web2/archive/what-is-web-20.html.
  10. Den Begriff “Kontrollverlust” habe ich 2010 in die Debatte um die Digitalisierung eingebracht. Ich halte ihn immer für eine gültige Beschreibungsebene unserer Gegenwart, aber als Paradigma war er nur bis ca. 2015 tatsächlich hegemonial. Vgl. Michael Seemann: Glossar – Kontrollverlust, http://www.ctrl-verlust.net/glossar/kontrollverlust/.
  11. Tom Barnes: 16 Years Ago Today, Napster Changed Music as We Knew It, https://mic.com/articles/119734/16-years-ago-today-napster-changed-music-as-we-knew-it#.zhSidyIr4.
  12. Allen Unkenrufen zum trotz muss man festhalten, dass Privatsphäre vor Facebook im Internet nicht extsitent war. Es gab nur die globale Öffentlichkeit oder (unverschlüsselte) 1zu1 Kommunikation. Eine pragmatische und beliebig granulare Eingrenzung der Öffentlichkeit war eine der Innovationen von Facebook und teil seines Erfolgskonzeptes. Vgl. Michael Seemann: Plattformprivacy, http://www.ctrl-verlust.net/plattformprivacy.
  13. Michael Seemann: Das Neue Spiel – Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust.
  14. Vgl. Wikipedia: Netzwerkeffekt, https://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerkeffekt.
  15. Eine 10Punkteliste mit Strategien hatte ich in meinem Buch vorgestellt. Vgl. Das Neue Spiel, S. 153ff.
  16. Vgl. zum Begriff der “Antifragilität” einerseits Nicholas Taleb: Antifragile: Things that Gain from Disorder, und die Anwendung seiner Theorie auf den Kontrollverlust, Das Neue Spiel S. 162.
  17. Vgl. Michael Seemann: Digitaler Tribalismus und Fake News, http://www.ctrl-verlust.net/digitaler-tribalismus-und-fake-news/. Zu einer allgemeinen Analyse des politischen Tribalismus – allerdings mit starker US-Perspektive – siehe: Amy Chua: Political Tribes: Group Instinct and the Fate of Nations.
  18. Dirk Bäcker spricht in diesem Zusammenhang davon, dass neue Medien als “Katastrophe” auf die Gesellschaft wirken. Vgl. Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft.
  19. Clay Shirky macht diesen Vergleich in seinem Ted Talks auf und prophezeit bereit 2005, dass das Internet ca. 50 Jahre Chaos in die Welt bringen wird, bevor es besser wird. Sie Clay Shirky:Instituions and Collaboration, https://www.ted.com/talks/clay_shirky_on_institutions_versus_collaboration?language=en.
  20. Von der totalitären Kontrollgier des chinesischen Konstruktes muss man sich dabei nicht abschrecken lassen. Die moderne Republik wurde – wie gesagt – auch nur von der absolutistischen Kontrollgier eines Sonnenkönigs ermöglicht, dessen bürokratischer Staatsapparat 150 Jahre später durch die Bürger übernommen werden konnte.
  21. Siehe zum Beispiel Joanna Theodorou: What Grassroots Groups Can Teach Us About Smart Aid, https://www.newsdeeply.com/refugees/community/2018/02/21/what-grassroots-groups-can-teach-us-about-smart-aid oder
    Owen Jones: Kurdish Afrin is democratic and LGBT-friendly. Turkey is crushing it with Britain’s help, https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/mar/16/turkey-democracy-kurdish-afrin-britain-syria-arming oder
    Barcelona, the capital of a new state, https://ajuntament.barcelona.cat/barcelonallibres/sites/default/files/publicacions_fitxers/llibreblancang-2150.pdf.
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