Managing CTRL-Verlust III – Vorschläge zu einer Politik der herrschaftsfreien Kommunikation

Nachdem ich im Zuge der Reihe „managing CTRL-Verlust“ den aus der Netzsperrendiskussion (Teil 1) auch in Deutschland aufkeimenden Netzneutralitätsdiskurs auf alle Layer des Internets gemappt habe und zu einer generellen Forderung nach Plattformneutralität (Teil 2) transformiert habe, ist es an der Zeit, diese Forderung als allgemeines Gesellschaftskonzept herzuleiten und auszuformulieren. Der letzte Teil der Reihe soll sich in einer kruden Radikalität ergehen, die manch einen erschrecken dürfte. Aber Sie wissen ja wie das ist: ein Gespenst geht um auf der Welt, das Gespenst des Kontrollverlusts…

Ich will Ihnen was verraten: Internetaktivist zu sein, ist ein toller Job. Die Revolution passiert nämlich von ganz allein. Anders als ’68 oder ’86 haben wir keine Gesellschaft zu verändern. Denn unsere Revolution ist – wie viele Dinge in unserer Generation – voll automatisiert. Das Internet verändert die Welt in einer Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit, gegen die die französische Revolution ein lahmer Witz war. Und all das ohne Blutvergießen.

Wir Aktivisten müssen nichts mehr tun, als uns zurückzulehnen, ein bisschen die Internetschimpfer beschimpfen und die allerorts von ganz allein passierenden gesellschaftlichen Umbrüche in unseren Blogs in sinnhafte Schemata zu ordnen. Aus dem Großen und Ganzen entsteht dann eine Revolution, die wir nur noch als unsere Revolution „Taggen“ müssen.

Geert Lovink hat bereits 2007 eine Repolitisierung unserer Betrachtungsweise auf die Medien gefordert. Recht gebe ich ihm, dass wir aufhören müssen, daran zu glauben, dass die digitale Welt automatisch zu einer besseren wird. Nur sehr naive Libertäre können glauben, dass die Welle, auf der wir reiten, uns auf jeden Fall in die grenzenlose Freiheit führen wird. Reine Freiheit ist immer auch die Freiheit des Mächtigeren, die Freiheit aller anderen abzuschaffen. Nein, es gibt da Klippen und Ufer im Surferparadies und es werden immer mehr. Wir brauchen mal so langsam ein Konzept für eine Politik (wir Digitalen arbeiten ja immer alles auf den letzten Drücker aus) und ich habe da einen Vorschlag zu machen:

Postlibertarismus

Ich bin mir sicher, dass wir heute eine neue Politik brauchen. Und zwar nicht nur eine Netzpolitik, die – wenn sie sinnvoll ist – höchstens dazu dient, die Politiker von der sinnlosen Verrechtlichung des Internets abzuhalten. Wir brauchen auch keine Sozialdemokraten, die uns vor uns selbst schützen wollen. Wir brauchen keine Konservativen, für die jede durch das Internet bewirkte gesellschaftliche Änderung der Untergang des Abendlandes ist. Wir brauchen keine Öko-Alternativen, die bei Wlan-Strahlung ängstlich unter die Tische springen. Vor allem brauchen wir keine Liberalen, die die Freiheit des Netzes denjenigen zum Fraß vorwerfen, die mit Macht dessen Regulierung voranbringen wollen: den Konzernen.

Was wir heute brauchen, ist eine postlibertäre Politik. Eine Politik, die die maximale Freiheit des Individuums (des Bürgers, des Nutzers, des Verbrauchers, etc.) fordert und zur Not auch regulierend durchsetzt. Was paradox klingt, ist die einzige Möglichkeit den Kontrollverlust zum Wohle der meisten Menschen zu managen. Das heißt eben nicht, ihn rückgängig zu machen (es ist evident, dass das nicht funktioniert), sondern ihn – notfalls gegen sich selbst – zu erhalten.

Denn nicht nur die Politik macht sich daran, die Freiheiten im Netz einzuschränken. Provider, deren Geschäftsmodell die das Wegzoll-Kassieren an den Toren zum Internet ist, versuchen diese machtvolle Stellung ausnutzen, das Internet nach ihren Vorstellungen (und denen anderer zahlungskräftiger Interessenten) durchzuregulieren. Netzneutralität ist deswegen die Debatte der Stunde. Die Forderung an die Politik ist, dort regulierend einzugreifen, wo die Privatwirtschaft regulieren will.

Wir haben gezeigt, dass neben den Gefahren durch das Nadelöhr des Zugangs zum Netz, sich vor allem die neuen infrastrukturellen Zentralisierungstendenzen als Gefahr für das Internet herausstellen. Quasimonopole und interne Monopole engen erneut den Spielraum der Nutzer ein, schaffen Abhängigkeiten und diktieren ihre Regeln. Apple, Facebook, Google und Microsoft sind Unternehmen, auf deren Infrastrukturen heute schon einen Großteil der gesellschaftlichen Diskurse ablaufen. Willkürliche Änderungen im Umgang mit persönlichen Daten (Facebook), Relevanzdeutungshoheiten im Umgang mit Wissen (Google) und willkürliche Zensurpolitik (Apple) sind nicht mehr nur Diktaturen vorbehalten, sondern als mephistophelisches Eintrittgeld gegen Zugang zu Gesellschaft und Kommunikation „freiwillig“ zu entrichten.

Ich habe im letzten Teil dieser Reihe diesem Problem eine Forderung nach einer Ausweitung der Netzneutralitätsdebatte gegenübergestellt. Der Netzneutralitätsdiskurs muss ein „Plattformneutralitätsdiskurs“ werden. Wir müssen dafür sorgen, dass keine neuen Nadelöhre entstehen, die unsere gerade erst gewonnene Freiheit wieder einschränken. Die Macht von Facebook, Apple, Google und co. muss durch freie Datenportabilität und echte Interkonnektivität gebrochen werden. Multihoming muss politisch durchgesetzt werden, um die Neutralität der Plattformen vor dem Nutzer gewährleisten. Open Source, offene Schnittstellen und verteilte Systeme sind das Handwerkzeugs digitaler Vergesellschaftung und damit die Mittel einer Politik des Kontrollverlusts. Dieses als „Plattformneutralität“ bezeichnete Paradigma muss die Grundlage jeder Politik der Zukunft sein.

Was ist Plattformneutralität?

Plattformneutralität geht davon aus, dass jede Kommunikation auf mehreren Plattformen stattfindet. Jeder Markt, jedes Gespräch, jeder Telefonanruf und jeder Chat basiert auf mehr als einer sozialen, ökonomischen, technologischen Infrastruktur. Jede Kommunikation hat mehrere vertikal übereinander geschichtete Layer zur Grundlage und es reicht niemals aus, nur die Neutralität einer dieser Plattformen zu sichern, sondern man muss alle in den Blick nehmen. Plattformneutralität versucht jede Engführung, jeden Flaschenhals und jedes Machtgefüge auf den jeweiligen Layern der Kommunikation zu identifizieren und zu beseitigen.

Jürgen Habermas hat in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ die Idealsituation von Kommunikation als Herschaftsfreiheit definiert und somit eine Blaupause der Plattformneutralität geliefert.

  1. gleiche Chancen auf Dialoginitiation und -beteiligung,
  2. gleiche Chancen der Deutungs- und Argumentationsqualität,
  3. Herrschaftsfreiheit,
  4. keine Täuschung der Sprechintentionen.

Im Gegensatz zu Habermas glaube ich nicht an einen „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes„, der daraus resultieren soll. Ich glaube nicht an die Rationalität des Diskurses, nicht mal an dessen Notwendigkeit. Deswegen spielt der vierte Punkt der Aufzählung im Folgenden auch keine weitere Rolle.

Woran ich glaube, ist, dass diese Herrschaftsfreiheit der Kommunikation in Zeiten eines nicht mehr Rückgängig zu machenden Kontrollverlustes alternativlos ist. Ich glaube, dass nur so mit dem Verlust der eigenen Datenhoheit auf der einen – und den Möglichkeiten der personalisierten Weltperzeption auf der anderen Seite, sinnvoll zu verfahren ist. Und ich glaube, dass dieses Konzept weit über die Plattformen des Internets hinaus gehen muss.

Reallifeneutrality

Eine Politik des Kontrollverlustes darf sich nicht nur an den physischen und virtuellen Layern des Internets und allen seinen Nachfolgern orientieren. Denn die Probleme liegen oftmals tiefer. Die gesellschaftlichen Machtasymetrien der Wetware (des aus Wasser bestehenden Menschen und seinen realen Institutionen) sind es, die eine echte Neutralität der Plattformen von vornherein verhindern. Betrachtet man die sozialen und wirtschaftlichen „Lebenswelten“ (Habermas) als weiterer, tiefer liegende Layer jeder Kommunikation, so ist gerade hier ein großer Nachholbedarf festzustellen. Das lässt sich exemplarisch an zwei der in diesem Blog verhandelten gesellschaftlichen Umbrüche zeigen:

Postprivacy: Die tatsächliche Schutzfunktion der Privatsphäre ist so lange nicht zu leugnen, wie mir echte Nachteile durch die Offenlegung bestimmter Daten entstehen können. Postprivacy mag als Utopie eine schöne Idee sein, verwirklichen ließe sie sich erst, wenn ich als Individuum derart frei bin, dass ich meine Schwächen, Ansichten, Vorlieben und Eigenschaften in die Welt hinaus artikulieren kann, ohne Angst haben zu müssen, mir Steine in den Lebensweg zu legen. Hier sind es also die Machtasymetrien in der wirklichen Welt, die mich vom unbeschwerten Leben abhalten.

Selbstbestimmtes Realitätsfiltern: Zwar gibt es heute allerlei Möglichkeiten sich unliebsamer Kommunikation zu entziehen, indem wir unsere je individuell konfigurierten Filter vor die Realität schalten und uns in einer „Distributed Reality“ bewegen, jedoch liegt die „Ressource Ignoranz“ nicht auf der Straße. Machtgefüge in der echten Welt verhindern, dass ich bestimmte Beschimpfungen und Verleumdungen links liegen lassen kann. Menschen, die eine gewisse Macht über mich haben (Arbeitgeber, Kunden, Krankenkassen) können die eigentlich harmlosen Aneinanderreihungen von Buchstaben, die das Internet nun mal produziert, zu echten Benachteiligungen und Sanktionen transformieren, die sogar meine Existenz bedrohen können.

Mit anderen Worten kann man zusammenfassen, dass ein Kontrollverlust und dessen ungekannte Freiheiten erst dann wirklich zu realisieren sind, wenn wir es schaffen, uns selbst aus den verblieben Abhängigkeiten der modernen Welt zu befreien. Die „Ressource Ignoranz“ – oder anders: die Freiheit, sich seine Realität als Empfänger zu gestalten und auf der anderen Seite seinen Kontrollverlust als Sender zu akzeptieren, setzt eine Art „Reallifeneutralität“ voraus.

Einige Forderungen im Sinne der Plattformneutralität

Aus der Plattformneutralität als Reallifeneutralität lassen sich einige Forderungen ableiten, die weit über die klassische Netzpolitik hinaus gehen.

– Eine der zentralsten Forderungen muss sicher das Bedingungslose Grundeinkommen sein. Es würde sehr viele Menschen sehr effektiv aus sehr vielen Machtgefügen befreien – auf einen Schlag. Dabei geht es nicht nur darum, durch den verminderten Druck sich nicht mehr Weltbild seines Arbeitgebers unterordnen zu müssen. Auch in Familien wird oftmals ein durch finanzielle Abhängigkeiten induzierter normativer Druck aufgebaut. Dort, wo es finanzielle Abhängigkeiten gibt (also fast überall), würde ein Grundeinkommen Machtasymetrien enorm abbauen.

– Allzu oft wird auf die Krankenkassen hingewiesen, die ein vitales Interesse an meinen privaten Daten haben können, um sie gegen mich zu verwenden. Es ist sogar abzusehen, dass sich dieser Druck noch in’s unermessliche steigern wird, sobald es erst Normalität ist, sein eigenes, sequenziertes Genom (und damit die Dokumentation aller genetisch wahrscheinlichen Leiden des weiteren Lebens) auf einem USB-Stick mit sich herumtragen zu können. Kinder, die qua Geburt hoch verschuldet sind, wären keine Ausnahme, sondern die Regel. Deswegen brauchen wir ein „Datenblindes“ Gesundheitssystem, indem jeder jede Versorgung zu einem solidarisch finanzierten Festpreis bekommt. Auch dies halte ich – allein der Fortschritte in der Gentechnik wegen – für alternativlos.

– Wir müssen das Rechtssystem dahingehend reformieren, dass die Ungleichheit der finanziellen und damit juristischen Möglichkeiten nicht ausschlaggebend dafür sein darf, ob ein Meinungsstreit angefangen, zu Ende geführt oder gar gewonnen werden kann. In Deutschland sind dies vor allem das Abmahnwesen sowie Grundsatzurteile wie das Stolpe-Urteil, die allein die Möglichkeit der Verletzung des Persönlichkeitsrechts höher als das Recht zur Meinungsfreiheit stellen, die der Reformierung bedürfen. In Zeiten der „Distributed Reality“ in der Bibliothek von Babel ist jeder für sein Persönlichkeitsrechtsschutz selbst zuständig.

– Das Urheberrecht (und all seine Ablegern wie Patentrecht, Leistungsschutzrecht, etc), dass Monopolverwertungen von Informationen erlaubt, widerspricht dem Gedanken der Plattformneutralität natürlich konträr. Hier muss über eine komplette Abschaffung nachgedacht werden. Zusammen mit der Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommen halte ich dies auch für vertretbar. Im Resultat ginge es den kreativ Schaffenden so gut, wie es ihnen nie zuvor ging.

– Wir müssen Kommunikations- und Filterkompetenzen gleichmäßig verteilen. Dafür ist eine Angleichung der Bildungschancen aller Schichten unerlässlich. Es darf keine Extrabehandlung für Kinder zahlungskräftiger Eltern geben. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit sollte insgesamt Elternneutral verlaufen. Weder die ökonomischen Ressourcen, noch der Erwartungsdruck der Eltern sollen die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen oder nur beeinflussen. Ganztagsschulen sind aus dieser Forderung also nicht wegzudenken.

– Natürlich müssen wir die ökonomisch-sozialen Verwerfungen insgesamt minimieren und gleichzeitig eine Form der Finanzierung der bisherigen Forderungen finden. Ich halte da die Abschaffung der Erbschaft – oder anders: die Einführung der 100%-Erbschaftssteuer – für eine gute Möglichkeit. Nicht nur, dass sie den Sinn ziellosen Gewinnstrebens ad absurdum führen würde, sie würde gleichzeitig die längst überwundenen, archaischen Klanstrukturen schwächen, die auch in Deutschland immer noch unterschwellig am Werk sind. Zugleich schüfe dies wirkliche ökonomische Chancengleichheit innerhalb der Generationen.

Es ließen sich an dieser Stelle noch viele Forderungen einer Politik der Plattformneutralität anschließen. Das alles würde vermutlich in eine Art neoliberalen Infosozialismus führen, vielleicht aber auch nur in ein totales Chaos, vielleicht aber auch in eine funktionierende Freiheitsutopie.

DISCUSS!

(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)

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