Queryology I – Das Ende der Medien

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Dies ist der erste Teil einer verschriftlichten und erweiterten Version eines Vortrags, den ich während der 27c3 in der c-base gehalten habe. hier geht es zum zweiten Teil: Queryology II – Das Filtersubjekt
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Wenn wir über das Internet nachdenken, dann tun wir es für gewöhnlich in dem Kontext einer gewissen Evolution der Medien. Um es in seiner Wirkung, in seiner sozialen und kulturellen Disruptivität und den ausufernden neuen Möglichkeiten zu veranschaulichen, stellen wir es neben den Fernseher, neben die Zeitung und das Radio. Wir ziehen eine Linie von dort nach hier, als wäre der Computer und das Internet der nächste, logische Schritt in der Entwicklung von Medientechnologien. Dementsprechend hat sich auch die Medientheorie an den Computer angenähert, indem sie ihn in diesen historischen Kontext einordnete, als Kulturmaschine.

Es ist nicht allzu schwer zu zeigen, wie neue Medientechnologien neue Kulturformen hervorbrachten. Friedrich Kittler hat diese technischen Dispositive der Kultur „Aufschreibesysteme“ genannt und eingehend untersucht. Aufschreibesysteme bilden den „Möglichkeitsraum“ und die Summe der von dem technischen Instrumentarium vorgegebenen Regeln, in denen Kunst, Kultur, Kommunikation stattfinden kann.

Es lässt sich also zeigen, wie seit der Erfindung von Sprache, Schrift, Papyros oder der Entwicklung von Notations- und Ordungssystemen wie Listen oder Kataloge, Karteikarten und Register, wie die Erfinung des Buchdrucks, die Entwicklung des Linotype, der Schreibmaschine, des Grammophons, des Sythesizers, etc – wie all das einen nicht unwesentlichen Impact auf die Kultur hatte, wie die Hardware neue Genres, neue Musik-, Literatur- und Malstile miterfand oder sie entscheidend mitprägte. Statt sich also mit Geistesgeschichte und Ideengenalogien zu beschäftigen, müsse man die Hardware untersuchen, auf der Kultur läuft, so Kittler.

Kittlers herangehensweise wird auch Medienarchäologie genannt. Ähnlich wie das große Vorbild Foucault, will Kittler das Archiv der Diskurse heben, will die Regeln freilegen, die bestimmen, was zu einer Zeit gesagt werden kann und was nicht. Jedoch nicht mit Blick auf die Diskurse, sondern ihrer technischen Grundlage.

Auch mit dem Computer beschäftigt sich Kittler eingehend. Der Computer, der oft und gerne als universelle Maschine firmiert – also als eine Maschine, die jede andere je denkbare Maschine simulieren kann, scheint für Kittlers Analyse zunächst keine Angriffsfläche zu bieten. Alan Turing hatte die Grundlagen der Funktionsweise des Prozessors als die Lösung einer mathematischen Problemlage definiert; Als die Definition aller in endlichen Rechenschritten lösbaren Probleme in der Mathematik.

Wenn der Computer aber diesseits der Berechenbarkeit keinerlei Beschränktheiten mehr aufweist, kann sich also auch nach Kittler keine Kultur oder Kunst an diesen Beschränkungen entlangentwickleln. Was bleibt, ist ein unendliches Feld der Möglichkeiten, die Auflösungen aller Grenzen.

In „There is no Software“ versucht Kittler zu zeigen, dass Computersysteme in ihrer tatsächlichen Ausgestaltung eben nicht die universellen Maschinen sind, die Turing sich ausdachte, sondern dass sie in der Praxis bestimmten Limitierungen unterworfen sind. Ein realer Prozessor ist und war in der Tat zu jeder Zeit durch seine physische Ausgestaltung gewissen Beschränkungen unterworfen. Es gibt viel zu beachten: Wärmentwicklungen, elektromagnetische und elektrostatische Abstrahlung, Mindestleitfähigkeiten usw. All dies schränkt die Möglichkeiten ein und determiniert die eigentliche universelle Maschine zur endlichen Hardware. Die Software kann so eben nicht – wie es in einer theoretischen Turing Maschine wäre – das angestammte Problem frontal lösen, sondern nur ein Mikrogramm des Problems – eben das, was gerade mit der Technik machbar ist.

Was Kittler aber übersieht, ist, dass die Ansprüche der Realität ebensowenig „ideal“ sind, wie der Computer universell. Es braucht im Endeffekt dann doch nur vereinfachte Modelle, um mit 97% Wahrscheinlichkeit ein physikalisches System vorherzusagen. Es braucht nicht 20 Millionen Iterationen auf einen Renderingalgorithmus, um ein für einen menschlichen Betrachter fotorealistischen Effekt zu erzeugen – 10.000 tun es meistens auch. Und mp3 ist ein weiteres Beispiel dafür, dass man viele Daten sparen kann, wenn man auch die Hardware des Menschen – in diesem Fall den Frequenzbereich des Hörspektrums – mit in die Rechnung einbezieht. Aber noch viel wichtiger ist, dass Kittler den Computer beständig daran mißt, wie er daran scheitert, Bestehendes zu reproduzieren und dabei aus dem Blick verliert, welche neuen, vorbildlosen Möglichkeiten er erschafft. Gerade mit Blick auf das Internet erweitert der Computer die Welt, statt sie nur zu simulieren.

Natürlich kann man den heute immer noch in Nerdkreisen populären Sound der 8-Bitmusik anführen oder die Entwicklung des D3-Trickfilms entlang des gerade technisch Machbaren zeichnen und wird sich bei Kittler noch gut aufgehoben wissen. Aber all das rechtfertigt diese Betrachtungsweise nicht nachhaltig, denn die meisten und wichtigsten Entwicklungen zeichnen heute ein ganz anderes Bild.

Peter Glaser erzählt immer gerne vom digitalen Erweckungserlebnis, dass er bei seinem ersten Konzert von Kraftwerk hatte. Nach der orgiastischen Zeit des Glamrock, der alle Variationen neuer Technologien verschwenderisch in ihre Werke einbauten, hat Kraftwerk es vollbracht, zu einer Schlichtheit zu finden, die die ästhetischen Maßstäbe der elektronischen Musik der kommenden Zeit setze. Die Leistung bestand eben nicht entlang der Grenze des gerade Möglichen zu schrappen, sondern im Verzicht, in der Selbstbeschränkung durch Selektion. In dem unendlichen Möglichkeitsspektrum des Computers wählte Kraftwerk nur sehr wenige Töne und Beats aus, um einen extrem minimalistischen, aber dennoch völlig neuen Sound zu kreieren.

Musikproduktion ist nicht mehr das „Rauszuholen, was die Hardware, also die Instrumente „hergeben„. Nicht mehr diese Coproduktion zwischen Mensch und Maschine an den Grenzen des Machbaren, sondern die Kunst der kühlen, nüchternen Selektion.

Diese Entwicklung, die die Musik durch den Computer und das Internet genommen hat, die des Techno, des Crossovers und der Remixkultur ist mit dem Denken Kittlers nicht abbildbar. Es lässt sich nicht mehr auf die Hardware zurückführen, sondern auf auf die Schaffung der Selektionsmechanismen und die sozialen Effekte durch das Internet. Ein noch so tiefes Verständnis von Assembler oder C bringt einen nicht weiter, um die Kultur im Paradigma des Computers zu verstehen.

Kehren wir also zu Turing und dem Problem des Computers als Medium zurück: der Computer kann also jedes denkbare Bild erzeugen. Der Computer kann jeden denkbaren Text schreiben. Der Computer kann jeden Ton erzeugen der in Schallwellen abbildbar ist. Und er tut es. Wir stehen mit dem Computer – verstärkt durch die Konnektivität des Internets – vor einem neuen Problem: dem Problem der Unendlichkeit der Möglichkeiten. Der nichtdeterminierte Diskurs ist die Ausgangslage, von der aus wir neu denken müssen.

Den Zustand des unendlichen Mediums hat Jorge Luis Borges in seiner Fabel „Die Bibliothek von Babel“ treffend beschrieben. Die Menschen leben dort in einer Art Bibliothek, in der es alle denkbaren Bücher gibt. Jedes Buch hat 410 Seiten, 40 geschriebene Zeilen pro Seite, jede Zeile hat 80 Zeichen unter Verwendung von 25 Buchstaben. Unter den 1,956 * 10 ^ 1834097 Büchern gibt es Bücher nur aus Reihen mit „A“s und welche mit „B“s. Und Bücher mit As und einem B und welche mit zwei Bs. Und überhaupt alle Kombinationen von allen Buchstaben, die überhaupt möglich sind. Alle je geschriebene und je denkbaren Texte sind darunter, aber in erster Linie sinnlos bedrucktes Papier. 99% würde ich vermuten, also eine Quote, an die das Internet sich heranarbeitet.

Im Ernst: Dies ist der Zustand, zu dem die Milliarden Menschen an ihrer steigenden Masse an universellen Maschinen mit ihrer steigenden Rechenpower und steigenden Konnektivität hin tendieren. Die riesige und unerbittliche Kopiermaschine Internet wälzt alle denkbaren und undenkbaren, alle wichtigen und belanglosen, alle interessanten und unerwünschten Informationen unterschiedslos aus. Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt und das Wachstum sich dabei immer noch beschleunigt – speziell seit dem Internet.

Die Nichtbeschränkbarkeit von Informationen ist für viele zum Problem geworden. Begriffe wie „Informationsflut“ bestimmen die Außenansicht des Internets. Beschränkungen von Informationen müssen aufwändig, künstlich eingeführt werden (DRM, Paywall) und gegen gesellschaftlich unerwünschte Information wird nach Sperrstrohalmen gegriffen. Konzepte wie Datenschutz und Urheberrecht versagen angesichts der Komplexität massenhaft interagierender Daten. In diesem Kontext muss man auch die Idee von den sich selbst löschenden Informationen verstehen. Es sind verzweifelte Versuche, das Internet wieder in die altbekannte Ordnung zurückzuführen.

Die, die am Internet partizipieren wissen schon lange, dass es einer anderen Ordnung angehört und reklamieren eine andere Weise des gesellschaftlichen Umgangs. Die Formel: „der hat das Internet nicht verstanden“ mag arrogant klingen, bezeichnet aber sehr treffend die Situation, wenn sich jemand dem Internet mit dem mentalen Rüstzeug der „Medien“ nähert. Der Unterschied ist in erster Linie ein erfahrbarer, kaum abstrakt verstehbarer. Es gibt keine Medientheorie des Internets und wird sie niemals geben.

Die Bibliothek von Babel ist der Grabstein der Geschichte der Medien und damit auch ihrer Archäologie. Wir sind hier am Ende von Kittler und sogar am Ende jeder Medientheorie, also jeder Theorie der Notationswerkzeuge und Publikationssysteme. Sie haben lediglich historischen Wert. Die Evolution der Aufschreibesysteme hat mit dem Computer und dem Internet zu ihrem Ende gefunden. Und wir merken: das ist mehr als nur das Ende der Gutenberggalaxis. Es ist das Ende des Mediums als gedankliches Konzept. Und: Wir brauchen ein neues.

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