Twitter, Amen und das neue Facebook – Queryology als Analyseansatz

Mit Jörg Friedrich hatte ich unter meinem letzten Atrikel eine Grundsatzdiskussion über die Queryology, die realtionale Datenbank und die Freiheit. Friedrich wendete ein, dass in der heutigen Zeit, mit der heutigen Technik der Speicherung vor allem Freiheitsgrade verlorgen gingen und eben nicht hinzukämen. Die Strukturen der Datenbanken seien starr und verhinderten einen freien Umgang mit Daten. Noch auf Karteikarten seien viel erweiterbarere und sogar ganz aus der Rolle fallende Speichermöglichkeiten gegeben, etwa Notizen und Querverweise.

Das ist ohne Frage richtig. Nur, wendete ich ein, die Queryology ist eben keine Liberalisierung der Speicherung, sondern der Abfrage. Sie ist der neue Ort der Freiheit. Wir sind es gewohnt nur auf die Seite der Speicherung – des Archivs – nach ihr zu suchen und beklagen uns, wenn sie uns dort abhanden kommt und deswegen entgehen uns schnell die neue Freiheitsgrade auf Seiten der Abfrage.

Die Einschränkung der Freiheit auf Seiten des Archivs hat aber Methode. Sie vergrößert die Freiheit auf Seiten der Query. Im letzten Text habe ich das vor allem an der Entwicklung der Arbeit zu zeigen versucht. Je determinierter und eingeschränkter man Tätigkeiten aufteilen und definieren kann, desto besser können sie von der Query erfasst und von ihr ersetzt werden. Man sieht sich traditionell schnell als Opfer einer solchen Standardisierung des Archivs. Als Arbeiter. Dabei ist man ja nur die Zwischenlösung.
Es war die grundlegende Kritik des letzten Jahrhunderts an der Moderne, „Entfremdung“ genannt bei Marx und wundervoll in Szene gesetzt in Modern Times“ von Charlie Chaplin. Doch seit der Emanzipation der Query haben wir die paradoxe Situation, dass es gerade diese Standardisierung ist, die neue Freiheiten generiert, mehr menschliche Interaktionen ermöglicht und der Entfremdung entgegentritt.

Nehmen wir Facebook

Ein Freund von mir – Tobias Leingruber – veranstaltete mal einen „Facebook-Resistance“-Workshop auf der Transmediale. Ein künstlerischer Protest gegen die Schablonenhaftigkeit der Facebookprofile, ganz im Sinne von Jörg Friedrichs Kritik. Es wurden Browser-Plugins entwickelt, die die Facebookprofile so chaotisch und bunt werden ließen, wie damals die auf Myspace.

Das ist eine nette Idee. Und auch wenn die „Freiheit“ auf Myspace eigentlich darin bestand, vorhandene Bugs des Systems dazu auszunutzen, um die Page zu designen, kann ich Tobi nur recht geben: Facebook schränkt Freiheiten ein. Es schränkt aber vor allem die Freiheit des Speichernden ein und macht es dem Lesenden dadurch angenehmer, sich zurecht zu finden. Außerdem ermöglicht die Standardisierung der Felder Vergleiche unter den Profilen anzustellen, die für Nutzer relevant sein könnten. Eine entsprechende Query vorausgesetzt.

Die Query, also die Seite des Information Abrufenden, wird gestärkt durch diese Einschränkung der Freiheit im Archiv. Und auch die Browserplugins, die Tobias entwickelte, stützen das. Denn die vorgenommene Myspacisierung der Facebookprofile findet nicht auf Seiten der Speicherung statt, sondern im Browser, also zur Zeit der Anfrage. (Browser gehören der Ordnung der Query an). Außerdem wurde auch diese Freiheit durch die feste Struktur auf Seiten des Archivs (Facebook) ermöglicht, denn auch das Plugin braucht eine strukturierte Konfiguration, wie XML-Tags und CSS-Klassen, um sich bei der Umgestaltung zu orientieren.

Nehmen wir Twitter

Das queryologische Konzept steckt auch hinter dem Erfolg von Twitter. Twitter ist ansich nichts neues. Es gab bereits zentrale Bloggingplattformen, auf denen die Leute einander asynchron abonnieren konnten. Die Neuerung ist also vor allem die Einschränkung auf der Seite des Senders, also auf Seiten des Archivs. Die 140 Zeichengrenze.

Diese hat zwei Auswirkungen:
1. Die Sender sind gezwungen, sich auf kurze, schneller konsumierbare Nachrichten zu beschränken, was den Empfängern ermöglicht, einen viel höheren Durchsatz an Informationen konsumieren.
2. Die produzierten Daten sind leichter maschinell auswertbar. Bis heute schnellen immer neue Dienste aus dem Boden, die alle möglichen Aspekte von Tweets und Twitterern in anschauliche Statistiken verpacken, während Marktforscher versuchen, aus den Tweets Stimmungen zu lesen oder gar den Erfolg von Kinofilmen vorherzusagen.

Twitters Daten sind aufgrund der Einschränkung auf Seiten des Archivs strukturierter und besser auswertbar, als beliebig lange Texte. Durch ihre klare formale Vorhabe lassen sich Tweets leichter kategorisieren, rekontextualisieren, rekombinieren und aggregieren. Sie sind quasi gefundenes Queryfutter.

Nehmen wir Amen

Ein ganz neues Startup hat das auch verstanden. Amen zwängt die kommunikativen Möglichkeiten seiner Nutzer in ein ganz enges Korsett. Man darf nur Sätze einer festen Struktur von sich geben: „X ist das beste/schlechteste Y ever„. Hat man X und Y bestimmt und die Parameter eingestellt, kommt eine Behauptung zu stande, die eine sehr starke Meinung reklamiert. Diese kann für andere Nutzer durchaus nützlich sein. Mich interessiert oft, was meine Freunde für den besten Song, Club, Käsekuchen halten und welche die schlimmste Fahrradwerksatt in Berlin ist.

Vor allem aber lassen sich diese gewonnenen Daten auch leichter automatisiert verarbeiten. Die Query kann hier um so mächtiger zuschlagen und regionale, nationale und internationale Hitlisten aller Dinge herstellen. Oder persönliche Statistiken um meine mit den Präferenzen meiner Freunde zu vergleichen. Ab einer bestimmten Userbase kann sehr schnell extrem nutzbares Wissen generiert werden.

So einfach und so genial sich die Idee anhört, glaube ich dennoch nicht wirklich an den Erfolg. Der Nutzen für den einzelnen Nutzer am Abgeben eines „Amen“ ist doch sehr beschränkt, gegenüber der Konfiguriererei.

Mit jeder Iteration im Social Media Markt wird unsere Aufmerksamkeit ein Stückweit kostbarer. Blogs brachen in ein Vakuum, Facebook hat sich langsam etabliert, Twitter hatte genug kleine Nischen in der alltäglichen Aufmerksamkeit um sich auszubreiten, Google Plus muss um jeden Tropfen Aufmerksamkeit hart kämpfen, während die restlichen Sozial Networkansätze vor sich hinversauern. Nicht Daten sind die neue Währung, Aufmerksamkeit ist es! (Es ist das, was diese Dienste finantziert, nämlich: Werbung. Die ist in erster Linie verkaufte Aufmerksamkeit. Die Daten werden nur benuntzt um unsere Aufmerksamkeit effektiver abzuzweigen. Der Kampf um Aufmerksamkeit ist der Kampf um die Query des Konsumenten, ein Kampf gegen seine Filtersouveränität.)

Wer in den dicht gedrängten Markt der Aufmerksamkeit hinein will, darf nicht einfach nur zusätzliche Informationen anbieten, sondern muss den Leuten zunächst Aufmerksamkeit sparen. Er muss vor allem den Zeitaufwand minimieren.

Und da sind wir bei dem neuen Facebook

Seine Neuerungen versprechen zunächst einmal mehr Speicherung auf der Archivseite. Die Nutzer sollen mehr Daten bei Facebook posten. Der Trick zur Reduzierung des Aufmerksamkeitsaufwandes ist, dass das nun vor allem auch automatisiert passieren soll. Spotify soll Daten über den Musikkonsum, Run-Apps die sportlichen Erfolge, Kochapps das Koch- und Essverhalten einspeisen, usw.

Man soll jetzt nicht mehr nur „liken“ dürfen, sondern seinen aktiven Bezug zu einem Objekt semantischer definieren. Man „liest“ ein Buch, man „läuft“ eine Strecke, man „trinkt“ ein Getränk. Facebook „weiß“ jetzt, was man trinken, laufen und lesen kann und wer das wie oft tut. Facebook wird semantisch. Die Frage stellt sich dann natürlich: wer soll den Kram noch lesen?

Auf die Frage, was wir brauchen, um mit der Informationsflut fertig zu werden, antwortete David Weinberger einmal: „Mehr Daten„. „Mehr Daten und intelligente Queries“ würde ich ergänzen. Daten erhöhen den Wert von Daten, weil sie ihnen Kontexte schenken, aus denen dann wieder Relevanz generiert werden kann. Aber nur, wenn man die verknüpfenden Algorithmen dafür hat.

Die hat Facebook und zusätzlich eine neue, extrem komplexe Datenstruktur. Wenn Facebook nicht nur weiß, dass es ein Objekt X gibt, dass ich like, sondern dass X ein Buch ist, dass ich gerne gelesen habe, kann es meinen Freunden und Followern diese Information besser und komprimierter aufbereiten.

Aus dem Stream von teils völlig automatisch generierten Informationen, können dann Haufen gebildet werden, Korrelationen und Gewichtungen von statten gehen und so Relevanz für den Empfänger generiert werden. 3 Leute, die ich kenne lesen Buch X, 4 Leute, die ich kenne, hören Song Y. Das sind dann wohl eine relevante Objekte für mich. Zudem erhöht es die Konfigurierbarkeit meiner Query: Ich kann mich nur über Bücher, und Artikel im Web, nicht aber Musik informieren lassen, wenn ich das möchte. (hoffentlich baut facebook das so ein)

Fazit

Das Internet verändert die Gesellschaft massiv zu ihrem Vorteil. Die menschlichen Beziehungen werden wieder direkter, aber auch vielfältiger und schlicht mehr. Durch das Internet und seine Tools können wir mit immer mehr Menschen in kommunikativen Beziehungen treten, an immer mehr Ideen teilhaben, immer mehr Informationen prozessieren. Wir können das, weil wir immer intelligentere Querys haben, die die Welt speziell für uns aufbereiten.

Wir sind längst in der Zeit angekommen, in der die Query uns immer stärker unterstützen muss, um die Komplexität unserer Kommunikation zu bewältigen. Welche Schwerpunkte wir in der Query setzen, bleibt uns überlassen. Alle Informationen der Welt auf einen Klick, ein orgiastisches Rauschen von Informationsmassen über alles, was uns interessiert, wann immer wir das Handy zücken. Die Abschaffung der Langeweile und Erweiterung des Geistes sind heute alltägliche Erfahrungen.

Die Query führt uns in eine völlig neue Freiheit, weswegen wir bereit sind, ihr unsere Daten in der besten für sie verdaubaren Form darzureichen. Wir wollen die Query mächtig, wir brauchen die Query mächtig, und deswegen füttern wir sie so sehr. Denn die Query sind wir. Unsere Timelines, die Recommondations, Profile und die Googlesuche sind längst Teil von uns geworden. Unser Geist nimmt den Zugang zur Information bereits in sein mentales Modell von sich selber auf. Und wir werden ohne nicht mehr leben wollen (wenn wir es überhaupt könnten). Zu recht!

In der Moderne war der Konflikt klar: dort die unmenschliche Maschine, die die Welt nach ihren Anforderungen strukturiert. Hier der entfremdete Mensch. Die Prozesse sind noch die selben, sie sind nur kleinteiliger, schneller und verfügbarer geworden. Wir Menschen haben deswegen die Seiten gewechselt.

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