Das Internet nach dem Internet – Eine persönliche Anamnese

/** Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den ich im Rahmen einer Tagung an der Universität Köln gehalten habe und wird demnächst in einem zugehörigen Reader veröffentlicht. **/

Vor etwa 2,4 Milliarden Jahren brach eine einzigartige Naturkatastrophe über die Welt hinein. Eine neue Spezies, die Cyanobakterien, hatten sich im Kampf der Evolution durchgesetzt und machten sich daran, alle anderen Spezies mittels eines aggressiven Giftes auzulöschen. Ein Großteil der bis dahin lebenden Organismen fielen dem Massaker zum Opfer. Die Nachfahren dieser Massenmörderspezies nennen wir heute „Pflanzen“ und ihr tödliches Gift war der Sauerstoff.

Das neue Gift atmete ich etwa Anfang der 90er. Ein Freund von mir wählte sich oft in das FidoNet ein. Eine Art Proto-Internet, was aber eigentlich nur ein System von Mailboxen beschrieb, bei dem man sich einwählen konnte und das automatisiert Daten austauschte. In diesem Netz konnte man bereits mit Unbekannten kommunizieren. Man lud Texte und Bilder herunter, diskutierte und schloss Freundschaften.

Wenige Jahre später sah ich meine erste Website. Es war Spiegel Online. Ich zuckte mit den Schultern. Es gibt doch schon Zeitungen, dachte ich mir. Doch das Schulterzucken hielt nicht lang. Meine erste eigene Mailadresse holte ich mir im Web. 1997 bei GMX. Ich wollte mit Freunden zu Hause in Kontakt bleiben, denn ich sollte zum Studium nach Lüneburg umziehen.

Erst im Studium habe ich wirklich angefangen, mich für das Netz zu begeistern. Es war mitten in der Dotcom-Bubble und ich wollte alles über das Internet wissen. Ich legte meine Zwischenprüfung über die Geschichte des Internets ab. Ich fing an zu programmieren. Erst nur Webdesign, dann Java, PHP und Datenbanken. Mehrere Jahre lang arbeitete ich als Programmierer in einer kleinen Internetfirma.

Doch egal was ich tat, ich wurde das Gefühl nicht los, der Idee und dem Potential des Internets nicht gerecht zu werden. Schließlich wendete ich mich den Medienwissenschaften zu. Nur leider hatten die zu dem Thema kaum etwas zu sagen, jedenfalls zu jener Zeit. Die deutsche Medientheorie war geprägt von der Kittlerschule und die hatte erst mal nur den Computer in den Blick genommen.

“Close enough”, dachte ich mir und las, was ich kriegen konnte. Doch etwas war mir fremd: Die Erfindung und Entwicklung des Computers wurde mit der Ehrfurcht gefeiert, die an die Landung eines Außerirdischen erinnerte. Die Beschäftigung mit dem Computer wirkte wie die Kommunikationsversuche mit einer fremden Spezies. Ich verstand natürlich, dass der Computer ein besonderes, ein universelles Medium war, aber für mich war er eben doch Teil der Welt. Kittlers Passion für maschinennahen Code etwa und sein Herabblicken auf alles, was nicht in C oder Assembler programmiert ist, empfand ich absurd und weltfremd. Es gibt keine Software? Was für ein absurder Gedanke.

Heute mache ich die unterschiedliche Aneignungsgeschichte für diese Andersartigkeit der Wahrnehmung verantwortlich. Der Computer trat ja tatsächlich in das Leben der Generation Kittler wie ein frisch gelandetes Alien. Der Computer erschien als wissenschaftlich-militärische Großmaschine auf der Bildfläche und hatte damit die Aura von Raketentechnologie. Atombombe, Interkontinentalrakete und Computer bildeten einen gemeinsamen modernistischen Komplex in den Assoziationen der Zeitgenossen.

Ich hingegen hatte den Computer als den netten Spielgefährten auf dem Schreibtisch kennengelernt. Mein erster Computer war ein Commodore 128D, eine etwas weiterentwickelte Variante des berühmten C64. Der Computer war ein Alltagsgegenstand, fast schon ein Kinderspielzeug. (Um ehrlich zu sein, habe ich ihn in erster Linie auch ausschließlich zum Spielen benutzt.)

Noch während ich meine Abschlussarbeit schrieb – etwa 2005 – fing ich an zu bloggen. Zunächst war es reine Prokrastination. Aber es nahm mich sofort gefangen. Mich reizte das „sich ausdrücken können“, bei gleichzeitiger Unmittelbarkeit des Feedbacks. Die Schnelligkeit und die Freiheit alles zu sagen, was ich will, während (theoretisch) Millionen Leute das lesen können. Das ist vielleicht gar nicht mehr so gut nachvollziehbar, aber damals fühlte sich das wirklich revolutionär an. Meinungsfreiheit galt damals nur theoretisch. In Wirklichkeit musste man enorme Ressourcen in Bewegung setzen, um auch nur ein kleinen Teil Öffentlichkeit zu generieren.

So sehr ich mich bemühte, das Netz und sein Veränderungspotential über Bücher und Programmieren zu verstehen; so richtig verstand ich es erst beim Bloggen. Beim freien Benutzen des offenen Webs und seiner Möglichkeiten wurde mir klar, dass dieser persönliche, ja intime Zugang zu Öffentlichkeit es war, der alles verändern würde. In der Blogosphäre streckte nicht eine kalte Technik seine Apparate in die Welt, sondern es etablierte sich eine neue Form von Lebensraum. Ich las Blogs, wie andere durch ihre Straße gehen, und kommentierte Artikel als würde ich mit den Nachbarn quatschen. Ich spürte das Internet förmlich, und zwar als Verbundenheit und Heimat. Ich fühlte mich im Internet zu Hause.

Wir Blogger waren die Avangarde einer global unausweichlichen Utopie totalvernetzter Diskurse. Wir waren uns sicher: bald schon würden alle tun, was wir tun. Bis dahin mussten wir nur zweierlei machen: Weitermachen und das Netz gegen all diejenigen verteidigen, die es eifersüchtig bekämpften. Das waren nicht wenige, denn das Netz begann schon früh die gesellschaftliche Position von vielen zu bedrohen. Journalist/innen, Verleger/innen, Rechteinhaber/innen, Innen- und Justiz-Politiker/innen und die Lobbys von einigen Wirtschaftverbänden. Um das Jahr 2009 herum emergierte das, was man bis heute „Netzpolitik“ nennt und was sicher eine der schlagfertigsten Grassrootslobbys der letzten Jahrzehnte war.

Mitten in dieser Zeit, Anfang 2010, fing ich an für die FAZ zu bloggen. Ich wollte meine ganz eigene Medientheorie des Internets aufschreiben. Alles kulminiert in der These vom Kontrollverlust. Der Kern der Idee: Wir verlieren Kontrolle über Datenströme und alle Folgewirkungen, positive wie negative, und sich die darum scharenden Diskuse können auf dieses Grundphänomen zurückgeführt werden. Unter dem Strich jedoch, da war ich sicher, würde sich dieser Kontrolltverlust lohnen. Im Ganzen werde er positive Auswirkungen auf die Gesellschaft und seine Individuen haben.

Als ich vier Jahre später das Buch 1 dazu schrieb, war die positive Grundstimmung einer desillusionierteren Variante gewichen: “Der Kontrollverlust hat die Welt im Griff. Was heißt schon gut oder schlecht? Jedenfalls sollte man seine Strategien anpassen.” “Machiavelli des 21. Jahunderts” nannte man mich daraufhin.2

Was war in der Zwischenzeit von 2010 bis 2014 passiert? An dieser Stelle werden für Gemeinhin die Snowdenenthüllungen als desillusionierendes Weltereignis angeführt. Es hatte sich gezeigt, dass aussgerechnet die Offenheit der digitalen Technologie von mächtigen Akteuren missbraucht wurde, um Menschen in einem nie dagewesenen Ausmaß auszuspionieren. Diese Möglichkeit jedoch war in der Kontrollverlustthese von vornherein eingepreist. Privatsphäre war etwas, auf das man sich schon länger nicht mehr verlassen konnte.

Jede Dystopie ist in ihrer Realisierung banal. Ja, wir leben heute in der viel beschworenen Überwachungsgesellschaft. Der aktuelle Zustand der Welt übertrifft unsere schlimmsten Erwartungen. Aber hey, sein wir ehrlich. Das ist schon auf ne Art ganz ok. Niemand hat wirklich Angst. Protestieren tun nur ein paar Bürgerrechtler, so aus Prinzip.

Nein, Snowden war nicht der Grund. Es waren drei Entwicklungen, die meine Euphorie gegenüber dem Internet deutlich dämpften.

Erstens: Wir haben gewonnen. Bzw. wir – die Blogger – haben recht behalten. Die grenzenlose Freiheit des Publizierens durch das Internet kam tatsächlich im Mainstream an. Alle haben nun Zugang, jede/r bekommt Öffentlichkeit, wenn er/sie es will. Meinungsfreiheit wurde von einem abstrakten Recht zu einer realen Praxis.

Jede Utopie ist in ihrer Realisierung dystopisch. Ungehinderter Zugang zur Informationsverbreitung und ungehinderter Zugang zu Organisation stellten sich als wirkungsvolle Strukturverstärker nicht nur der Zivilgesellschaft, sondern auch des Hasses heraus. Ein Hass, der bis dahin in den dunklen Gewölben der Eckkneipen eingehegt war und nun mittels gegenseitiger Selbstverstärkung durch die digitalen Ritzen in die Öffentlichkeit quillt. Pegida, das vergessen viele, ist als Facebookgruppe gestartet. Pegida ist unser arabischer Frühling. Hass wird heute online geschürt, Demos und Brandanschläge werden per Messenger koordiniert. Immer mehr Menschen ziehen sich zurück in die Heimeligkeit zwischen Verschwörungsblog und WhatsHass-Gruppe. Auch sie haben ihr Zuhause im Netz gefunden.

Zweitens: Das Netz hat seine Grundstrukturen verändert. 2010 lief ein Großteil des Diskurses – vor allem der um das Netz – auf Blogs und Twitter ab. Es gab eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich auszudrücken, obwohl schon damals beobachtbar war, wie sehr geschlossene Plattformen an Relevanz gewannen. Als die Menschenmassen kamen – etwa 2012, gründeten die wenigsten Blogs, sondern strömten zunächst fast ausschließlich auf Facebook. In dieser Zeit verdoppelte Facebook seine Nutzer/innen-Zahlen. Andere geschlossene Plattformen – Instagram, Whatsapp und Snapchat – wiederum profitierten von den Distinktions- und Ausweichbewegungen der jüngeren Generation und wurden ebenfalls in enormen Tempo zu riesigen Playern. All das hat zur Folge, dass das Internet und das open Web als Entität in den Hintergrund getreten ist, es bildet lediglich die Infrastruktur der eigentlichen Interaktionsschnittstellen. Und die werden von den Plattformen bereitgestellt.

Drittens: Das Netz hatte also die Unverschämtheit, sich hinter dem Rücken der ersten Netzcommunity einfach weiterzuentwickeln. Was sich auf Youtube, Instagram, Snapchat und Periscope entwickelte, wurde auf den Blogs der Netzgemeinde kaum reflektiert. Doch auf einmal hatten Einkaufvideos (haul-videos) von 15 jährigen Jugendlichen 100 mal so viele Zugriffe als die wichtigsten netzpolitischen Flagschiffe der Bloggergeneration.

Das mag nach verbitterter Kulturkritik klingen, es ist aber vielmehr das Eingeständnis von vergangenem Größenwahn und aktuellem Nichtverstehen. Es geht mir wie Grandpa Simpson: “I used to be with it, but then they changed what it was. Now what I’m with isn’t it, and what’s it seems weird and scary to me. It’ll happen to you!”3

Dieses “it” war bei uns vor allem die politische und intellektuelle Auslotung des Netzes. Unsere Themen waren immer “special Interest”. Aber wir hatten ja die Gewissheit, dass unsere Anliegen nicht special Interest bleiben würden. Würde das Netz erst Mainstream werden, so dachten wir, würden unsere Debatten und unsere gut informierten Positionen zum Netz ebenfalls im Mainstream einreiten. Kurz: Wir dachten unser “it” würde das “it” sein, wie noch jede Generation vor uns.

Doch die neue Netzgeneration setzt sich nicht mit Netzneutralität auseinander. Sie interessiert sich nicht für Netzsperren oder Datenschutz. Schlimmer noch: für sie ist das Netz kein Begriff mehr, der überhaupt etwas neues verheißt. Sie empfinden keinen Drang alles verstehen zu wollen. Das Netz ist halt da. Es ist ein Alltagsgegenstand, mit dem man Dinge machen kann.

Und hier, am Ende dieser Reise finde ich mich dann doch in wieder. Das Internet ist für diese Generation das, was für mich der Personal Computer war. Und so wenig, wie ich mich in Turing und von Neumann eingearbeitet habe, so wenig mich die Schaltpläne des ENIAC, das Programmieren in Assembler oder Compilerbau interessierten, so wenig spannend finden die Jugendlichen die Geschichte des ARPA-Net, den Kontrollverlust durch TCP/IP oder die Idee des Open Web.

Genauer betrachtet ist das, was sie im Internet machen, viel radikaler. Wir haben unsere Blogs noch in die bestehende Medienordnung einzuordnen versucht. Mit Begriffen wie “Bürgerjournalismus” oder “Gegenöffentlichkeit” suchten wir Anschluss an bestehende Mediendiskurse. Die Kids jedoch interessiert das alles nicht. Sie machen das, was sie machen unter völliger Absehung vorhandener Systeme und Öffentlichkeiten. Sie schaffen neue Medienformate aus sich heraus, aus ihren Interessen und aus ihrem Leben zwischen Playstation, Schulhof und Drogerieeinkauf. Sie kennen den ängstlich rückversichernden Blick auf Relevanz und Anschlussfähigkeit gar nicht, den wir Blogger der alten Schule nie abgelegt haben.

Am Ende, wenn alle Utopien und Dystopien verwirklicht sind, bleibt nur noch die bereits veränderte Welt als neue Normalität. Überwachung und unendliche Möglichkeiten der Öffentlichkeit sind keine Dinge mehr, die man gut oder schlecht finden kann. Das Internet zu beschimpfen oder zu idealisieren macht so viel Sinn, wie über die Vor- und Nachteile von Sauerstoff zu diskutieren. Der Trick heißt Atmen.

  1. Seemann, Michael: Das Neue Spiel – Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust, Freiburg 2014.
  2. Business Punk Heft 5/2014: Machiavelli des 21sten Jahrhunderts.
  3. The Simpsons S07E24: Homerpalooza. (Danke an Felix Neumann für die Referenz)
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