David Gelernter hat diese Woche einen langen Beitrag in der FAZ zu der Frage verfasst, ob Computer jemals denken können werden. Dies ist so etwas wie eine Antwort auf seinen Text.
Der Grund, warum ich über diesen Text sprechen will, ist, weil ich dort über eine Stelle gestolpert bin, die mich mehr als stutzig zurück gelassen, ja, mich sogar tief beunruhigt hat. Es ist eine nicht ganz unwichtige Stelle. Es ist der direkte Anflug auf das Ziel des Textes, nämlich der Frage nach der Vergleichbarkeit der menschlichen Intelligenz mit einer fraglichen, vielleicht aber zukünftig möglichen Intelligenz einer Maschine. Dazu muss man natürlich erst mal „Intelligenz“ definieren. Gelernter macht das so:
„Wie der Philosoph Paul Ziff betonte, kann mit Intelligenz nur menschliche oder menschenähnliche Intelligenz gemeint sein. (Wir gehen davon aus, dass der Geist eines Tiers in dem Maß menschenähnlich ist, in dem das Tier selbst menschenähnlich scheint.) Gelegentlich hört man die Behauptung, das Internet werde eine völlig neue Form von Intelligenz hervorbringen. Aber diese Vorstellung ist sinnlos oder, anders gesagt, unsinnig. Das wäre so, als behauptete man, einen neuen Schokoladegeschmack entdeckt zu haben. Der Geschmack, den wir Schokolade nennen, ist jedoch genau das, als was wir ihn bezeichnen; es gibt keine andere Definition. Wenn der „neue Geschmack“ wie Schokolade schmeckt, ist er nicht neu; tut er es nicht, dann ist es kein Schokoladengeschmack. Wenn die neue Form von Intelligenz menschenähnlich ist, ist sie nicht neu. Wenn sie nicht menschenähnlich ist, ist es keine Intelligenz.“
Mich hat das seltsam berührt zurückgelassen. Wir Menschen sollen also die erste und gleichzeitig letzte Antwort auf die Frage sein, was Intelligenz ist. Nicht nur, was Intelligenz ist, sondern auch was sie war und was sie sein wird. Ein kaltes Gefühl der Einsamkeit beschlich mich, bei dem Nachdenken über Gelernters Definition. Und eine Unzufriedenheit. Ich werde noch darauf zurück kommen.
Die menschliche Intelligenz ist etwas ganz Besonderes. Das hebt Gelernter an mehreren Stellen sehr deutlich hervor: „Andererseits ist die menschliche Intelligenz das Wertvollste, was wir im Universum kennen, und wir haben nie genug davon.“ Schon in einem früheren Artikel in der FAZ, wo es um die Grenzen und Probleme der Computersimulation ging, rief Gelernter auf, „zum gesunden Menschenverstand“ zurückzukehren. Der Verstand ist bei Gelernter das höchste Gut, sofern er erstens „menschlich“ und zweitens „gesund“ ist. Man kann Gelernter als einen Humanisten bezeichnen, für den der Mensch sogar ganz praktisch ein Idealbild ist, an dem sich alles andere orientiert.
Doch was genau stellt sich Gelernter unter dieser „menschlichen Intelligenz“ nun vor? Wie ist sie definiert in ihrer Sonderstellung, ihrer Werthaftigkeit und ihrer Besonderheit? Genau das zu klären, bemüht sich der Text fast in seiner vollen Länge.
Gelernters Modell des Denkens
Gelernter meint, dass Denken und menschliche Intelligenz weit über das Schlußfolgern hinausgehe. Es ist eben nicht nur die rationale und funktionale Logik, also das gezielte und gerichtete Denken, das für ihn die Intelligenz ausmacht, sondern vor allem auch das nichtgezielte Denken, das Abschweifen, das freie Assoziieren. Dazu legt er recht frühzeitig drei Benchmarks fest, die es zu nehmen gilt, will man seiner Meinung nach Intelligenz künstlich erreichen:
„Kein Computer wird je wie ein Mensch denken können, wenn er nicht frei assoziieren kann. […]
Kein Computer wird je wie ein Mensch denken können, wenn er nicht halluzinieren kann. […]
Kein Computer wird je in der Lage sein, wie ein Mensch zu denken, wenn nicht auch er seine Gedanken bewohnen, sich in seinen Geist versenken kann.“
Das heißt, dass Assoziieren, Halluzinieren und sich kontemplativ in seine Gedankenwelt Zurückziehen laut Gelernter zu der menschlichen Intelligenz unbedingt dazu gehören, sogar sie erst als menschlich definieren. Ich will kurz versuchen, mit meiner Interpretation seinen Ausführungen gerecht zu werden:
Gelernter knüpft alles an das Wort „Wachheit“. Ist man hellwach, dann ist man in den Sphären des Bewusstseins. Das Denken ist hier voll gerichtet und auf Interakation mit der Außenwelt eingestellt. Je müder der Geist wird, um so mehr zieht er sich in sein inneres zurück, beschäftigt sich mehr und mehr mit den eigenen Gedanken, schweift ab und fängt an zu assoziieren. Gelernter stellt die Möglichkeit des Abschweifens als Möglichkeit der Traumlogik dar. Die Traumlogik sei so sowas wie der Gegenpol zur Logik des Bewusstseins. Das Denken changiert von einem zum anderen. Gelernter findet ein schönes Bild dazu:
„Stellen wir uns einen kleinen Kreis innerhalb eines größeren Kreises vor: Bei maximaler Konzentration ist das Gedächtnis (der kleine Kreis) vollständig im Bewusstsein (dem großen Kreis) enthalten; das Bewusstsein ist seinerseits von der äußeren Realität umgeben. Wir haben die bewusste Kontrolle über unser Denken und Erinnern.
Bei minimaler Konzentration ist das Bewusstsein der kleine Kreis, der zur Gänze vom Gedächtnis eingeschlossen ist. Das Gedächtnis steht zwischen dem Bewusstsein und der äußeren Realität; das Bewusstsein ist isoliert wie eine Burg durch ihren Burggraben. Bewusst ist uns nur unsere innere, imaginäre Realität.“
Es ist wirklich schönes und vor allem dynamisches Bild, dass Gelernter hier gefunden hat. Wie der Bewusstseinskreis einerseits den Zugang zur Realität sucht, sofern er das Gedächtnis in sich einschließt und wie sich dieser Vorgang umkehrt, wenn das Gedächtnis plötzlich mächtiger wird, als das Bewusstsein – es somit in sich einschließt und die Realität in ihrer Aufgabe als Beweger des Denkens ablöst.
Poesie, Erinnerung und Medientechnik
Um es kurz zu machen: mir gefallen die Beschreibungen Gelernters zum Denken und seinen Zuständen. Ich muss aber dazu sagen, dass ich in diesen Themen nicht besonders bewandert bin. Mit meinem Freudkenntnissen und den paar Artikeln aus den Massenmedien über neurobiologische Forschung kann ich nicht beurteilen, wie wissenschaftlich Gerlernter hier argumentiert, oder nicht. Das will ich anderen überlassen.
Mich interessiert viel mehr, wie – auf welche Weise, mit welchen Mitteln – er hier argumentiert. Mit welchen schönen Metaphern er spielt, welche Modelle er zeichnet und welche lyrischen Referenzen er findet, um die Einzigartigkeit des menschlichen Denkens zu beschreiben.
Er operiert nämlich mit sehr blumigen Metaphern. Er spricht von Klavieren und Klaviersonaten, von inneren und äußeren Kreisen. Er zitiert die Genesis, Kafka und T. S. Eliot und viele andere Literaten, die die Erfahrung des „Abstiegs“ (Gelernter benutzt auch diese Metapher) in den inneren Kreis gemacht haben. Dieser Abstieg in sich selbst, den er bei den unterschiedlichsten lyrischen Werken immer wieder findet und zitiert. Aus seinem Gedächtnis vielleicht, vielleicht aus seinem Bücherregal, seinem Wissen also. Wir erinnern uns: jene Untiefen, die den Kreis bilden, in dem das Bewusstsein zur Traumzeit gefangen ist.
Denn genau in dieser Einzigartigkeit des menschlichen Gedächtnisses und seiner Verinnerlichung wird der Unterschied zum Computer deutlich, den Gelernter definiert haben möchte.
„Man kann einen Computer und einen Menschen anleiten, sich eine Rose vorzustellen und sie zu beschreiben. Womöglich erhält man zwei gleichartige Beschreibungen und kann nicht entscheiden, welche vom Computer und welche vom Menschen stammt. Aber es besteht ein wichtiger Unterschied: Der Mensch sieht und erfasst vor seinem geistigen Auge eine Rose; er kann sich ihre Farbe und ihren Geruch vorstellen und wie sie sich anfühlt. Für den Computer gibt es keine imaginäre Rose und keine innere geistige Welt, nur eine Leere. (Philosophisch gesprochen ist dies das Problem der „fehlenden Qualia“.)“
Die Menschlichkeit David Gerlernters
Lassen wir Gelernter diesen Unterschied, der für ihn diese wichtige Grenze markiert, die er so gerne behalten will. Ich werde jedenfalls nicht der Versuchung verfallen, sie über die Computerflanke anzugreifen. Ich werde es von der anderen her tun, der menschlichen.
Wenn die Erfahrung des Abstiegs in die Welt der Erinnerung das ist, was diese Grenze zwischen einem menschlichen und künstlichen Denken dauerhaft bestimmt, dann muss diese Erfahrung die menschliche Erfahrung schlechthin sein. Dann muss diese Grenze fix sein, dann muss es so sein, wie Gelernter es oben schon gesagt hat: dann ist diese Grenze nichts weniger, als die Definition des Denkens selbst.
Bei dem Lesen des Textes habe ich mich nämlich gefragt, wie „menschlich“ David Gelernter eigentlich ist?
Ich habe den Eindruck, dass David Gelernters Denken nicht „menschlich“ ist. Ich präzisiere: dass es nicht nur und nicht mal in erster Linie menschlich ist, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie er es definiert. Ich habe den Eindruck, dass er ausgerechnet dort, wo er uns die Demarkationslinie der Menschlichkeit präsentiert, dass er dort am aller wenigsten menschlich ist.
David Gelernter hat uns alleine in diesem Text zahlreiche Hinweise dafür geliefert, dass die Höhle seiner selbst – seines Gedächtnisses und seiner Assoziationen – künstlich erweitert wurden und zwar mit Medientechnik. Mit technischen Aufzeichnungsapparaten wurde David Gelernter sozusagen getuned! Wie könnte er sonst all die Literatur, die er hier so assoziativ verwendet, all die Metaphern, die er zitiert, wie könnte er das alles ohne zumindest den Buchdruck einfließen lassen?
Das, was Gelernter uns als das menschliche des menschlichen Denkens präsentiert – die Assoziationen – sind größtenteils angelesene Verweise! Medientechnisch vermittelte Assoziationen durchpflügen den ganzen Text und sind, so darf man vermuten, stets in seinem Gedächtnis aktiv und zwar vor allem dann, wenn Gelernter seinen Gedanken freien lauf lässt.
Das Denken der Zukunft
Kommen wir also zu der Anfangs zitierten Stelle zurück und fragen uns noch einmal, was das „menschliche Denken“ ist, das Gelernter als die Benchmark all dessen setzt, was Denken jemals sein darf. Fragen wir uns ruhig, was dieses „menschliche Denken“ vor und seit dem Buchdruck war und sein kann. Was es sein kann, seit der Alphabetisierung in Europa. Seit es einen Massenmarkt für Literatur gibt. Fragen wir uns, was das menschliche Denken, durch die Erfindung des Tonträgers wurde und was es angesichts von mp3 gerade wird. Fragen wir uns all diese Fragen, über das, was für Gelernter eine feststehende Kategorie ist.
Medien erhöhen die Anschlussfähigkeit dessen, was wir Denken nennen, egal ob bewusst, oder unbewusst. Sie reichern die Gedankenwelt und das Erinnern an, folglich verändern sie sich mit den Medien. Es gibt kein „natürliches„, kein „menschliches“ Erinnern oder Assoziieren. Diese Dinge sind, seit wir denken können, artifiziell.
Deswegen hat Gelernter unrecht, wenn er jede zukünftige Intelligenz an dem messen will, was er hier und heute als die „menschliche Intelligenz“ bezeichnet und denkt. Nicht, weil Computer so oder so denken werden (wenn sie es denn werden, auch hier bin ich kein Experte), sondern weil der Maßstab als solcher nie existiert haben wird.
Es wird also durchaus eine neue Intelligenz geben. Nämlich so, wie es schon immer nur eine neue Intelligenz geben konnte – sogar musste. Intelligenz, die schon immer über Begriffe wie menschlich und nichtmenschlich hinausragten. Die vor allem über die Begriffe all dessen hinausgingen, was die Menschen für Denken hielten, ob menschlich oder nicht.
Es ist nicht ratsam, sich in einen vorgestellten Humanismus zu flüchten und panisch seine Grenzen zu ziehen, denn die Technik und die Medien sind immer schon innerhalb. Und das eben nicht erst seit dem Computer. Ein Denken des Denkens, dass die Möglichkeit der Zukunft mit einschließt, muss sich der Nichtmenschlichkeit, der Artifizialität seiner Voraussetzungen jederzeit bewusst sein.
Nachtrag
Ich weiß nicht, ob Computer jemals denken können werden. Ich weiß auch nicht, wie Menschen eines Tages denken werden. Aber bei einem kann man ganz sicher sein: Menschliches Denken wird etwas völlig anderes gewesen sein, als wir es uns heute vorstellen.
Ich habe aber den Eindruck, dass ausgerechnet Assoziation und Kreativität – diese allzu menschlichen Eigenschaften – durch den Computer in einem enormen Maße beschleunigt werden. So sehr vielleicht, wie es der Buchdruck vermochte.
Der Bewusstseinsstrom – ich merke das an mir selber, wird eben nicht nur auf der Ebene dessen erweitert, was Gelernter dem bewussten Erleben zurechnet – sondern gerade auch in dem der Assoziation. Solche Dinge wie Meme, die im Internet in der sozialen Interaktion entstehen, sind technisch gestützte Assoziationsketten einer Gruppe von Menschen. Sie werden möglich durch die schnelle Bearbeitbarkeit und Erweiterbarkeit ihrer medialen Repräsentation innerhalb der digitalen Sphäre, so dass man sich blitzschnell (in Echtzeit) austauschen kann. Dabei könnten tatsächlich solcherlei unintentionalen Zustände der Gruppe eintreten, wie es Gelernter für das Subjekt definiert. Memetik gehorchte dann einer Art sozialer Traumlogik.
Es wäre interessant, nachzuforschen, in wie weit sich diese von Gelernter gefassten Bilder des „In-Sich-Versinkens“ durch das Internet heute oder künftig in sozialer Interaktion erleben lassen.
So oder so. Es wird noch sehr spannend sein, was wir in Zukunft als „menschliches“ Denken bezeichnen werden. Falls wir diesen Terminus nicht irgendwann vernünftiger Weise aufzugeben bereit sind.
(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)
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