Die Graphnahme der Gesundheit

Ein strategisches Planspiel zur möglichen Plattformisierung des deutschen Gesundheitssystems

Dieser Text ist in dem Sammelband „Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie“ erschienen.

HINWEIS: Der Text versucht gendergerechte Sprache zu verwenden. Bei der Mehrzahl von Personen werden männliche wie weibliche Formen mit dem :-Zeichen angezeigt. Bei der Einzahl wird das generische Femininum verwendet. Nur bei dem häufig verwendeten Begriff „Arzt-Patienten-Verhältnis“ verwende ich aus kosmetischen Gründen das generische Maskulinum.

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Plattformisierung. Nicht erst, aber ganz besonders seit der Coronakrise, die viele unserer Aktivitäten ins Digitale zwangsverlegte, haben Plattformen enorme Umsatzsteigerungen verzeichnet. Doch nicht nur Amazon, Zoom und Netflix sind Gewinner der Pandemie, sondern auch Plattformen im Gesundheitsbereich. Gerade während der Pandemie wollten viele sich nicht mehr in stickige, ungelüftete Wartezimmer von Ärzt:innen setzen und so führte das zu einem Aufstieg der Telemedizin. In den USA waren Telemedizin-Sitzungen bereits der Normalfall in vielen Arztpraxen (Seema 2020). Auch Terminportale wie Doctolib haben einen Boom erlebt, waren doch viele Menschen auf der Suche nach impfenden Ärzt:innen. Doch auch unabhängig von der Pandemie wird viel Geld in diesen Bereich investiert. Die Versprechen sind gigantisch: verbesserte Effizienz durch digitale Abläufe, weniger Bürokratie, neue Erkenntnisse durch aggregierte Daten, mehr Selbstbestimmung der Patient:innen durch mehr Steuerungsmöglichkeiten und mehr Transparenz, bishin zu ganz neuen, personalisierten Therapien und Medikamenten. Es gibt etliche Studien (Lehne et all, 2019), wissenschaftliche Aufsätze (Vicdan 2020) und Whitepaper von Beratungsagenturen (Neumann et.al. 2020), die aus dem Schwärmen für und Warnen vor der digitale Transformation des Gesundheitsbereichs nicht herauskommen.

Doch in Wirklichkeit geht es noch um etwas anderes: Die mit der Digitalisierung einhergehende Plattformisierung ist vor allem auch eine Machtumverteilung im System. Den verschiedenen Akteuren des Deutschen Gesundheitssystems ist das durchaus bewusst, weswegen jeder Digitalisierungsschritt mit Argwohn, Widerständen und zum Teil heftigen Grabenkämpfen einher geht. Man sieht das aktuell bei Digitalisierungsprojekten wie die digitale Patientenakte, der digitalen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), das E-Rezept, oder an den Kämpfen um die elektronische Gesundheitskarte. Digitalisierung verflüssigt zunächst einmal alle Interaktionen in einem vorher oft starren Bereich, was unweigerlich dazu führt, dass die Strukturen und damit auch Macht und Einfluss neu verhandelt werden. Jede Akteursgruppe hat Angst davor, als Verlierer dazustehen. Und eine der zentralsten Ängste betrifft die Plattformisierung, also die Befürchtung, Plattformen würden in dieser Gemengelage einen Großteil der Macht auf sich konzentrieren. 

Dass diese Angst berechtigt ist, zeigt sich in vielen Branchen und gesellschaftlichen Bereichen. Doch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Dass Plattformen Macht haben, ist zu einem Gemeinplatz geworden, doch oftmals – und vor allem auch im Kontext des Gesundheitsmarkts – wird diese Macht allein auf die Herrschaft über die Daten reduziert. Plattformen, so die gängigen Narrative, würden deshalb in den Gesundheitsbereich drängen, weil es dort wertvolle Daten abzugreifen gebe. Was genau die Plattformen mit diesen Daten wollen und wie nun der Zusammenhang von Daten und Geschäftsmodell ist, wird bei solchen Beschreibungen bedeutungsvoll im Argen gelassen. Ein raunendes „Überwachungskapitalismus“ muss reichen. Natürlich sind Daten ein wichtiger Teil der Gleichung, doch die ideologische Zuspitzung und Reduzierung des Aspekts auf die Datensammlei ist äußerst unpräzise und versperrt die Sicht auf die eigentlichen Machtkonstellationen. 

In diesem Text möchte ich nicht nur eine präzisere Beschreibung der Macht der Plattformen anbieten, sondern auch auf dieser Grundlage die strategischen Möglichkeiten der Plattformisierung des deutschen Gesundheitssystems ausloten. Die Plattformisierung geht bereits in vielen Bereichen des Gesundheitssystems voran, jedoch sind es bisher nur lokale Schauplätze und abgrenzbare Teilmärkte, in denen digitale Plattformen schrittweise Fuß fassen. Das sind ohne Frage spannende Entwicklungen, die jeweils unsere Aufmerksamkeit verdienen. 

Ich möchte in meinem Text allerdings etwas anderes versuchen: Ich will ein spekulatives, wenn auch mögliches Planspiel durchdenken, in dem der Gesundheitsbereich in seiner Gesamtheit unter die Herrschaft einer einzigen Plattform fällt. Ich nenne dieses Szenario „die Graphnahme der Gesundheit“. Damit meine ich im Ergebnis den weitreichenden Einfluss eines einzelnen Unternehmens auf einen Großteil der vielen kleinen Entscheidungen, die im Gesundheitsbereich an unterschiedlichsten Stellen getroffen werden. Entscheidungen, wie: zu welchem Arzt gehe ich, welche Therapien werden mir verschrieben, welche Vorsorge wird von mir erwartet, welche Medikamente werden entwickelt und wie werden Krankenhäuser gemanaged, etc. Damit keine totale Kontrolle gemeint, sondern ein Einfluss, vergleichbar mit der Macht, die Google über das erstellen und betreiben von Websites und Apple über den mobilen Software-Markt hat, wie Netflix heute Hollywood beherrscht, oder wie Amazon den E-Commerce bestimmt. Es ist diese spezifische Form von Macht und Kontrolle, die große, integrierte Plattformen ausüben. Eine solche Macht, so die These des Textes, könnte ein Unternehmen auch über den deutschen Gesundheitsbereich erlangen.

Doch zunächst müssen wir erklären, was Plattformen sind und wie ihre spezifische Mechanik der Macht funktioniert.

Was ist Plattformmacht?

Plattformen sind – als erste Annäherung – digitale Infrastrukturen zur Ermöglichung von Austausch. „Austausch“ kann dabei einerseits verstanden werden, als Interaktion zwischen unterschiedlichen Akteuren (zum Beispiel Transaktionen, Dienstleistungen oder einfach der Austausch von persönlichen Nachrichten) (Seemann 2020, S. 31). „Austausch“ kann aber auch so verstanden werden, dass die jeweiligen Akteure oder Komponenten selbst austauschbar werden. Wenn wir von Plattformisierung sprechen, muss immer beides mitgedacht werden: Zum einen werden technische Grundlagen des Austausches zwischen Akteuren geschaffen (also eine dafür geeignete Infrastruktur), die aber oft gleichzeitig der Austauschbarkeit der Akteure selbst Vorschub leisten. Und hier, in diesem zweiten Punkt, steckt der Kern der Macht der Plattformen: Wer austauschbar wird, verliert Macht, weil die Abhängigkeiten anderer von einem selbst sinken. Gleichzeitig gehen alle Abhängigkeiten auf die Plattform über und so auch die damit einhergehende Macht. 

Die Macht der Plattform entspricht also unserer Abhängigkeit von ihr. Da unsere Abhängigkeit von der Plattform jedoch wiederum nur eine Funktion unserer Abhängigkeit von anderen Akteuren auf der Plattform ist, steigt ihre Macht mit ihrem Wachstum. Wir nutzen Facebook, weil dort fast alle unsere Freund:innen sind, wir nutzen Uber, weil dort so viele Fahrer:innen auf unsere Fahrtwünsche antworten, etc. Diese Tatsache führt zu der Rückkopplung, dass Plattformen immer nützlicher werden, je mehr Leute an ihr partizipieren. In der Ökonomie nennt man diesen Zusammenhang „Netzwerkeffekt“ oder „Netzwerkexternalität“, ich aber nenne es mit David Singh Grewal „Netzwerkmacht“ (Grewal 2008).

Diese Netzwerkmacht wäre allerdings nur schwer zu in tatsächlichen Einfluss umzumünzen, wenn die Plattform nicht auch fähig wäre, Kontrolle auszuüben. Alle Akteure auf der Plattform können von der Plattform mal mehr mal weniger subtil in ihren Interaktionen beeinflusst werden. Über das Anbieten oder nicht Anbieten bestimmter Funktionen, über die Regulierung des Zugangs, über das Design des Nutzerinterfaces, über die Steuerung von Sichtbarkeit von Interaktionsmöglichkeiten über Algorithmen und einige andere Hebel kann die Plattform zumindest grob lenken, welche Interaktionen wahrscheinlich werden und welche nicht (Seemann 2021). Beides zusammen – Netzwerkmacht und Kontrolle – ergibt das, was ich Plattformmacht nenne.

Doch wie kommen Plattformen überhaupt an diese Macht? Wie haben sie es geschafft, sich jeweils zwischen uns und unsere wechselseitigen Abhängigkeiten zu schieben und diese Abhängigkeiten auf sich zu beziehen? Die Antwort ist: zumindest initial nehmen sie sich diese Macht einfach.

Plattformen treten nie in einen machtleeren Raum. Es gab Freundschaften vor Facebook, Personentransport vor Uber und Unterhaltungsangebote vor Netflix. Das Erste, was eine Plattform also macht, ist, bestehende Interaktionsnetzwerke und ihre impliziten Abhängigkeiten zu analysieren, um sie für sich einzunehmen. „Einnehmen“ muss hier im quasi-militärischen Sinne verstanden werden. Während Staaten Territorien kontrollieren, kontrollieren Plattformen Netzwerkgraphen und während die Macht der Staaten auf einer initialen Landnahme beruht (Schmitt 1950), beruht die Macht der Plattformen auf einer initialen Graphnahme (Engemann 2016 u. 2020). Das funktioniert, weil Netzwerkgraphen selten aus gleichverteilten Knoten und Verbindungslinien bestehen, wie ein Maschendrahtzaun, sondern in Wirklichkeit zerklüftete Landschaften von akkumulierten Verbindungen, Interaktionen und Abhängigkeiten sind und daher ebenso strategisch angegangen werden können, wie Landschaften. Facebook zum Beispiel eroberte in seiner Gründungsphase zunächst nur die Studierenden der Harvarduniversität, indem es sie einlud, ihre Freundschaften auf Facebook weiterzuführen. Erst nach Einnahme des Harvardgraphen nahm Facebook weitere Universitäten ins Visier. So ging es weiter, ein Campus nach dem anderen. Und erst, als es durch die Graphnahme der US-Studentenschaft so viel Netzwerkmacht aufgebaut hatte, dass alle Teil des Netzwerkes werden wollten, öffnete Facebook sich der Allgemeinheit (Seemann, S. 159 f).

Die Struktur des Gesundheitsgraphs

Wie kann eine solche Graphnahme also im Gesundheitsbereich aussehen? Auch das Gesundheitssystem ist kein machtleerer Raum, sondern auch er ist schon strukturiert durch ein komplexes Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten unterschiedlicher Akteure. Um ein Bild der Lage zu bekommen, muss der vorhandene Gesundheitsgraph zumindest grob umschrieben werden. Die Frage lautet: Was sind die strategisch wichtigen Abhängigkeiten, die als Einfallstor dienen können? 

Das Gesundheitssystem ist groß und komplex und schon länger nicht mehr unberührt von Plattformunternehmen. Sei es Apple und Google mit ihren Health-Apps und Trackingdevices (Maschewski/Nosthoff 2019), seien es populäre Gen-Datenbanken wie 23andme, seien es immer mehr plattformisierte Hersteller elektronischer Prothesen und digital gesteuerter Hilfsmittel wie Cochlea-Implantate, Herzschrittmacher oder automatische Insulinpumpe. Hinzu kommen Portale wie Doctolib zur Terminfindung bei lokalen Ärzt:innen und/oder Dienste für Telemedizin wie Kry.

Doch all diese Plattformisierungen arbeiten sich bislang nur an Teilbereichen des Gesundheitsgraphen ab. Der große Gesundheitsgraph – die großen Linien der relevanten Abhängigkeitsverhältnisse – sind noch immer dieselben wie vor 50 Jahren. Sie gilt es genauer zu strudieren, wenn wir die Möglichkeit des Ernstfalls, der vollständigen Graphnahme, ausloten wollen.

Unter den miteinander verschränkten Akteuren – die niedergelassenen Ärzt:innen, die Krankenhäuser, die Pharmaindustrie, die Krankenversicherungen (gesetzliche wie private), den Pflege- und Kur-Einrichtungen, die Apotheken und natürlich den Patient:innen – ist eine Beziehung ganz besonders herausgehoben: die zwischen Ärztin und Patient:innen. Die (Haus-)Ärztin ist für gewöhnlich der erste und der letzte Kontakt der Patientin mit dem Gesundheitssystem. Die Ärztin ist gewissermaßen das Interface, über den die Patientin auf das Gesundheitssystem zugreift. Es ist die Ärztin, die die Diagnosen erstellt, Therapien und Medikamente verschreibt und gegebenenfalls an Spezialist:innen oder ins Krankenhaus weiter verweist. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist geprägt von Vertrauen und nicht selten von persönlichen Beziehungen. Es ist nicht umsonst seit Jahrhunderten durch Kodizes wie den Hippokratischen Eid und gesetzlichen Regelungen, wie die ärztliche Schweigepflicht besonders geschützt. Es ist zudem kein Zufall, dass Ärzt:innen massiv im Lobbyfokus aller anderen Akteure des Gesundheitssystems stehen. Insbesondere die Pharmakonzerne investieren enorme Mengen an Geld in den Aufbau von Beziehungen zu Ärzt:innen, spendieren ihnen Reisen, Konferenzen oder teure Werbegeschenke. 2016 besuchten ca. 15.000 Pharmavertreter:innen jährlich 20 Millionen Mal deutsche Praxen und Krankenhäuser (Viciano 2017). Es dürften seitdem nicht weniger geworden sein.

Auch andere Akteure des Gesundheitsbereichs sind einflussreich. Die Pharmakonzerne verfügen über eine Menge Geld und Lobbypower. Die Versicherungen sitzen an der Schaltstelle der Entscheidung, welche Medikamente und Therapien wie vergütet werden (zumindest im Rahmen politischer Regulierung). Auch das sind strategisch wichtige Engstellen, die eine Menge Abhängigkeiten auf sich vereinen, jedoch reicht keiner dieser Punkte in ihrer Wichtigkeit an das Arzt-Patienten-Verhältnis heran. Wir stellen fest:

Wer den Gesundheitsgraphen kontrollieren will, muss das Arzt-Patienten-Verhältnis kontrollieren. 

Der offensichtliche Angriff wäre demnach, die Ärzt:innen auf die eigene Seite zu ziehen. Das ist das, was die Pharmaindustrie mit ihrem Milliarden Euro teuren Kampagnen seit Jahrzehnten mit gemischtem Erfolg versucht. Auch die Krankenkassen haben im Ansatz bereits „ihre“ Ärzt:innen. Die gesetzlichen Versicherungen in Form der Kassenärzt:innen und die Privaten haben zumindest die Ärzt:innen für plastische Chirurgie praktisch exklusiv. Doch einerseits ist die Gruppe der Ärzt:innen, die alle Arten von Patient:innen abdecken immer noch die mit Abstand größte und anderseits haben die Krankenkassen aufgrund der strengen Regulierung sowieso nur vergleichsweise wenig Spielraum, ihren Einfluss auszunutzen.

Das Gezerre um die Ärzt:innen selbst wäre allerdings gar nicht notwendig, gelänge es, die Macht der Ärzt:innen selbst zu brechen, indem man sie zum austauschbaren Teil des Systems macht. Keiner der traditionellen Akteure im Gesundheitssystem ist in der Lage, das zu erreichen. Doch eben hier kommt die Macht der Plattformen ins Spiel.

Voraussetzungen für die Graphnahme des Gesundheitssystems

Wenn ein Beziehungsgeflecht noch in undigitalisierter, das heißt nicht digital operationalisierbarer Form vorliegt, dann empfiehlt sich für die Graphnahme die Strategie des Iterationsangriffs (Seemann 2021, S. 172). Beim Iterationsangriff werden in einem ersten Schritt die vorhandenen Beziehungsgeflechte digital in einer zentralen Datenbank erfasst. Auf dieser Grundlage kann dann eine Kontrollebene eingezogen und den jeweiligen Interaktionspartner:innen angeboten werden. Die neue Kontrollebene wirbt zum Beispiel damit, die Interaktion zu vereinfachen (Reduzierung der Koordinationskosten), Vertrauensverhältnisse zu ersetzen und/oder mehr Auswahl an potentiellen Interaktionspartner:innen verfügbar zu machen. Alle drei Vorteile hängen unmittelbar miteinander zusammen. Wird das Angebot angenommen, finden die Interaktionen von nun an auf der neuen, digitalen Plattformebene statt. Die vorherrschenden Abhängigkeiten wurden also in Abhängigkeit zur Plattform transformiert. Der Graph wurde vertikal iteriert (Seemann 2021, S. 67 f).

Im Ansatz geschieht das bereits mit Plattformen wie Doctolib. Doctolib ist ein französisches Unternehmen, das seit sieben Jahren eine Datenbank mit Ärzt:innen über eine Website oder App verfügbar macht, um Terminvereinbarungen zu vereinfachen. Das bereits mit über einer Milliarde Euro bewertete Unternehmen ist seit einiger Zeit auch in Italien und Deutschland erfolgreich. Während der Pandemie hat es seinen Umsatz um 50% gesteigert, auf €200 Millionen Euro (Abboud 2021). Doctolib hat es verstanden, Ärzt:innen zu überzeugen, ihre Terminvereinbarung auf die Plattform auszulagern. Gleichzeitig schätzen auch die Patient:innen den Komfort, nicht erst umständlich anrufen zu müssen, um einen Termin zu vereinbaren.

Das ist allerdings noch keine Graphnahme. Die Terminbuchung wird zwar von vielen als nützliche Ergänzung angenommen, verändert die Arzt-Patienten-Beziehung aber noch wenig. Doch es ist ein Fuß in der Tür. Die wichtigsten drei Angriffsvektoren für eine mögliche Graphnahme zeichnen sich bereits ab:

  1. Koordinationskosten. Plattformen sind häufig sehr gut darin, Koordinationskosten – also den Aufwand sich zu koordinieren – radikal zu reduzieren. Exakt diesen Einfallsvektor hat Doctolib bereits erfolgreich gespielt. Für beide Seiten, für Patient:innen und Ärzt:innen reduzieren sich die Koordinationskosten bei der Terminvergabe enorm und es ist derzeit der wichtigste, wenn nicht einzige Grund, warum die Plattform so erfolgreich ist.
  2. Auswahl. Die reduzierten Koordinationskosten können nun in einem zweiten Schritt zu Second Order Effekten führen, zum Beispiel, dass Patient:innen eine gefühlt größere Auswahl an potentiellen Ärzt:innen in ihrer Umgebung zur Verfügung haben. Durch leichtere Auffindbarkeit und durch die schnelle Buchbarkeit fällt die Hürde, neue Ärzt:innen auszuprobieren. Wenn man unzufrieden ist, die eigene Ärztin über Wochen ausgebucht ist, oder man sich schlicht eine zweite Meinung einholen will, kann man nun schnell die Ärztin wechseln.
  3. Vertrauen. Die wichtigste Ressource des Arzt-Patienten-Verhältnisses ist allerdings Vertrauen. Oft wurde es über viele Jahre aufgebaut. Man kennt sich, man grüßt sich auf der Straße, hält bei Besuchen einen kleinen Schnack, fragt nach der Familie. Das ist die schwierigste Hürde. Erst wenn es gelänge, eine Alternative zu diesem Vertrauensverhältnis attraktiv zu machen, kann eine Graphnahme gelingen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich, da Doctolib keinen vollen Ersatz für dieses Vertrauen bieten muss, nur hinreichend viel, dass die oben genannten Vorteile den Ausschlag geben. Plattformen können ebenfalls Vertrauen herstellen, indem sie z.B. Ärzt:innen bewertbar machen, Patientenrezensionen anzeigen und/oder eigene Prüfverfahren und Qualitätssigel einführen. Das Ziel müsste sein, das Vertrauen zum Teil auf die Plattform zu transferieren.

Die verschiedenen Angriffsvektoren wirken auf die beteiligten Akteursgruppen unterschiedlich stark. Während die Senkung der Koordinationskosten auf beiden Seiten – den Ärzt:innen wie den Patient:innen – wirkt, sind Auswahl und Vertrauen nur für die Patient:innen-Seite gute Argumente. Für Ärzt:innen ist die Aussicht auf mehr Patient:innen“ nur theoretisch attraktiv. In der momentanen Situation laufen Ärzt:innen kaum Gefahr, zu wenig Patient:innen zu haben. Eher im Gegenteil. Auch das Vertrauensverhältnis ist ausschließlich auf Patient:innen-Seite wichtig. 

Eine spekulative Roadmap zur Graphnahme

Doctolib ist also in einer strategisch günstigen Ausgangslage, müsste aber einiges tun, um eine ernsthafte Graphnahme anzustreben. Ein Bewertungs- und Rezensionssystem für Ärzt:innen wird mit Doctolibs aktuellen Geschäftsmodell kaum möglich sein. Derzeit verlangt das Unternehmen € 129 von den Ärzt:innen, um über das Portal buchbar zu sein. Für diesen Betrag wollen die Kund:innen natürlich keine Kritik über sich auf der Plattform lesen. Das erste, was Doctolib also tun müsste, wäre dieses Geschäftsmodell aufzugeben und wahrscheinlich erstmal ganz auf Einnahmen verzichten, um risikokapitalfinanziert auf den neuen Kurs einzuschwenken. Eine Bewertungsfunktion zu implementieren und generellen Erfahrungsaustausch unter den Patient:innen zu ermöglichen wäre demnach der zweite Schritt. Dadurch könnte ein Teil des Vertrauens auf die Plattform übergehen und das Arzt-Patient-Verhältnis würde sehr viel volatiler.

Ob das für die Graphnahme ausreicht, ist unklar. Aber von hier aus, wären einige weitere Maßnahmen denkbar. 

  • Weitere Volatilität im Arzt-Patienten-Verhältnis könnte durch weitere Features erreicht werden. Etwa eine von der Plattform garantierte Sofortbehandlung. Der Algorithmus sucht den nächstbesten Termin aus den freien Terminen aller Ärzt:innen im Umkreis von 5 Km heraus und bucht automatisch den frühest verfügbaren. Eine andere Möglichkeit wäre die zweite Arztmeinung als unabdingbaren Standard zu promoten.
  • Eine weitere Reduzierung von Koordinationskosten bringt die weitflächige Einführung von Telemedizin. Doctolib könnte sich mit erfolgreichen Anbietern zusammentun und eine eigene Anwendung dazu direkt implementieren, so dass man aus der App oder Website heraus, sofort Videosprechstunden abhalten und Untersuchungsergebnisse teilen und besprechen kann. 
  • Wenn man nun für viele Patient:innen die allgemeine Schnittstelle zum Gesundheitssystems geworden ist, lässt sich das Angebot weiter ausbauen und optimieren. Eine Möglichkeit dazu wäre das Angebot einer vorgeschalteten Diagnose-KI, die zum Beispiel Voruntersuchungen bei bestimmten Standardbeschwerden macht und so schon mal grob den Möglichkeitsraum von Diagnosen vorsortiert. Erst nach Konsultation der Diagnose-KI wird man dann auf die passenden Ärzt:innen weiterverwiesen, die dann ihrerseits nicht bei null anfangen müssen.
  • Es lassen sich weitere Elemente in das neue Gesundheitsinterface einpassen. Doctolib könnte das einheitliche Interface für die digitale Patientenakte, die E-Rezepte und andere digitalisierte Gesundheitsformate werden, wo man genau verwalten kann, welche Ärzt:innen auf welche Daten Zugriff haben. Dazu wäre auch gleich eine Schnittstelle zu einer Online-Apotheke denkbar, um gleich aus dem Interface heraus die Medikamente zum Rezept zu bestellen. 
  • Zuletzt wäre auch eine Integration mit den Versicherern möglich, so dass nicht nur die bisherigen Behandlungen transparent werden, sondern auch die Behandlungsoptionen und deren eventuelle Zusatzkosten je Diagnose eingeblendet werden. Das Einreichen von Rechnungen wäre so ein Kinderspiel. Eventuell wäre sogar der Wechsel des Tarifs, oder gar des Versicherers aus dem Interface heraus möglich.
  • Am Ende wäre es auch der logische Ort, wo man seine sequenzierten Gen-Daten hinterlegt, um personalisierte Empfehlungen, Rezepte, Hinweise, sogar Warnungen zu bekommen.

Fazit

Die Digitalisierung im Gesundheitssystem hat das Potential die Prozesse sehr viel effizienter und reibungsfreier zu machen, die Forschung voran zu treiben und den Patient:innen mehr Optionen, bessere Versorgung und mehr Entscheidungsfreiheit zu geben. Doch all das zieht einen tiefgreifenden Wandel in den Abhängigkeits- und damit Machtstrukturen des Sektors nach sich. In anderen Feldern und Branchen ist bereits zu sehen, wie Plattformen sich diese Neuaushandlung zunutze machten. Durch ihr Prinzip der Integration von Beziehungen, schaffen sie es, sich als neue, allumfassende Intermediäre zwischen die jeweiligen Parteien zu stellen und so alle Abhängigkeiten auf sich zu beziehen.

Auch im Gesundheitsbereich könnte sich eine solche Entwicklung vollziehen und im Ansatz ist sie schon beobachtbar. Ob sie so verlaufen wird, wie ich es hier dargelegt habe, ist zu bezweifeln. Vielleicht wird es auch ganz anders laufen und ein ganz anderer Player tut etwas völlig anderes, um den Graph einzunehmen. Vielleicht wird der Gesundheitsbereich auch von der Plattformisierung weitgehend verschont, wer weiß? Mir ging es nur darum, die Möglichkeit einer vollständigen Graphnahme plausibel zu machen und die Mechanismen und strategischen Punkte aufzuzeigen, die dabei eine Rolle spielen könnten. Wenn dieses Zukunftsszenario genauso verlockend, wie erschreckend wirkt, dann zeugt das nur für seine Realitätsnähe.

Festzuhalten ist, dass der kritischste Punkt unseres kleinen Planspiels das Vertrauen der Patient:innen ist. Eine Plattform kann nur erfolgreich sein, wenn es ihr gelingt, einen ausreichenden Teil des Vertrauens auf sich selbst zu transferieren. Das gelingt um so besser, je weniger Vertrauen in die traditionellen Akteure vorhanden ist. Insbesondere die staatliche Regulierung spielt hier eine Schlüsselrolle. Wenn es dem Staat und den dabei eingebundenen Stakeholdern nicht gelingt, eine digitale Infrastruktur (mit elektronischer Gesundheitskarte, -Akte, -Rezept, usw.) anzubieten, die den Patient:innen das Gefühl gibt, dass ihre Bedürfnisse und ihre Sicherheit im Zentrum stehen, werden externe Plattformplayer diese Diskrepanz um so leichter auszunutzen wissen. Darauf sollten sich alle Akteure des Gesundheitssystems entsinnen, wenn sie in die nächsten Verhandlungen gehen.

Literatur

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