Leseprobe 4: Die Politik des Flaschenhalses als Waffe

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Ihr kennt das Spiel. Immer wenn es zu den Ereignisse in der Welt passende Passagen aus meinem Buch gibt, die helfen, sich in der aktuellen Situation zurechtzufinden, hau ich sie als Leseprobe heraus. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird Russland derzeit von der Weltgemeinschaft mittels der Politik des Flaschenhalses deplattformisiert. Dass Plattformen immer wieder als geopolitische Waffe verwendet werden, ist auch Thema meines Buches. In diesem Abschnitt erkläre ich die Politik des Flaschenhalses als Waffe, die Russland derzeit überall zu spüren bekommt. Er findet sich in Kapitel 6: Plattformpolitik und dort im Unterkapitel Netzsicherheitspolitik.

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Als Hillary Clinton 2010 düpiert vor der Weltöffentlichkeit stand, weil Wikileaks einen Großteil der vertraulichen Kommunikation ihres Ministeriums öffentlich gemacht hatte, setzte sie trotz ihres emphatischen Bekenntnisses zur Internetfreiheit alle Hebel in Bewegung, um Wikileaks mundtot zu machen. Einer der ersten Angriffspunkte waren Wikileaks’ Finanzströme. Das US-Außenministerium machte Druck bei den Dienstleistern, bei denen Wikileaks Kunde war: PayPal, Bank of America, Mastercard, VISA und Western Union. Sie alle froren daraufhin die Konten von Wikileaks ein und beendeten die Geschäftsbeziehungen.1

Bis dahin war vor allem China dadurch aufgefallen, dass es in netzaußenpolitischen Auseinandersetzungen auf die Politik des Flaschenhalses setzte, während die USA sich damit rühmten, ein freies und offenes Netz bewahren zu wollen und deshalb die weniger aggressive Politik der Pfadentscheidung als Mittel der Wahl zu sehen. Doch die Politik des Flaschenhalses ist dem Westen im Allgemeinen und den USA im Besonderen nicht nur nicht fremd, sie wird sogar seit vielen Jahrzehnten angewendet, um politischen Gegnern den eigenen Willen aufzuzwingen. Bei nicht netzpolitischen Angelegenheiten sprechen wir meistens von Sanktionen, die gegen den einen oder anderen Staat ausgesprochen werden. Sanktionen sind im Netz globaler Handelswege schon immer ein wichtiges Disziplinierungsmittel gewesen, und in Zeiten des Internets werden sie zur netzsicherheitspolitischen Offensivwaffe. PayPal ist das beste Beispiel. Die Plattform wird bereits seit vielen Jahren eingesetzt, um das US-Embargo gegen Kuba weltweit durchzusetzen. So können auch deutsche Händler*innen ihre Geschäfte mit Kubaner*innen nicht per PayPal abwickeln, obwohl Deutschland nie Sanktionen gegen Kuba verhängt hat.2

Doch es geht nicht nur um Finanzdienstleister. Als die USA im Oktober 2019 Sanktionen gegen Venezuela verhängen, schaltet Adobe seine gesamte Software in dem Land einfach ab. Das geht, weil das Unternehmen seine populären Produkte wie Photoshop, After Effects und Acrobat in den letzten Jahren immer mehr in die Cloud verlagert hat. Es verkauft jetzt Zugriff statt die Software selbst, was ihm ein Zugangs- und Verbindungsregime eröffnet, wie es für gewöhnlich nur Diensteplattformen haben. Auch wenn die Venezolaner*innen bereits gekaufte Kopien von Photoshop, After Effects oder Acrobat auf ihren Rechnern installiert hatten, konnten sie sie von einem Moment auf den anderen nicht mehr nutzen.3

Henry Farrell und Abraham Newman halten all die Narrative von der friedvollen wechselseitigen Abhängigkeit und dem ebenerdigen Spielfeld in den internationalen Beziehungen deshalb auch für höchst irreführend.4 Zunächst stellen Farrell und Newman in ihrem Paper Weaponized Interdependence fest, dass Netzwerke eben nicht jene heterarchischen, flachen Ebenen sind, zu denen sie oft verklärt werden, sondern im Gegenteil zu großer Ungleichheit tendieren. Netzwerkeffekte führen dazu, dass sich die meisten Verbindungen auf wenige Knoten konzentrieren. Dadurch ergeben sich neue Optionen zur geopolitischen Einflussnahme, die alles andere als friedlich sind. Die Autoren nennen zwei: den Panoptikumeffekt und den Würgepunkteffekt. Hat man als Staat Zugriff auf wichtige Kommunikationsknoten, kann man zum Beispiel die Kommunikation aller anderen Beteiligten abgreifen und die daraus gewonnenen Informationen zum eigenen Vorteil nutzen (Panoptikumeffekt). Man kann aber auch einzelne Akteure vom Nutzen des Netzwerks ausschließen oder diese Option als Druckmittel nutzen (Würgepunkteffekt). Der Würgepunkteffekt entspricht also exakt dem, was wir die Politik des Flaschenhalses genannt haben.

Farrell und Newman erklären diese Effekte anhand von SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication). Dieses System ist die Plattform für die weltweite Interbankenkommmunikation. SWIFT wurde 1973 in Belgien von einigen europäischen Banken gegründet, nachdem die First National City Bank in New York (FNCB, der Vorgänger der Citibank) ein ähnliches, aber proprietäres System, MARTI, vorgestellt hatte. Um sich der drohenden Graphnahme zu entziehen, taten sich die übrigen Banken zusammen, um eine offene, genossenschaftlich organisierte Konkurrenz zu schaffen. Bald schon schlossen sich auch amerikanische Banken an, die ebenfalls eine Dominanz der FNCB fürchteten. Es liegt auf der Hand, wie nützlich allgemeine Standards und sichere Kommunikationswege für Banken und ihre Transaktionen sind, und von daher ist es nicht verwunderlich, dass ab diesem Punkt die Netzwerkeffekte einsetzten. Waren 1977 noch 500 Organisationen aus 22 Ländern angeschlossen, stieg die Zahl bis 2016 auf 11 000 Organisationen aus über 200 Ländern, die 6,5 Milliarden Nachrichten pro Jahr austauschen. Da SWIFT mittlerweile fast eine Monopolstellung innehat, musste sogar die EU-Kommission regulierend eingreifen.5

Bereits seit 1992 dient SWIFT zur Überwachung globaler Geldströme und zum Aufdecken von Geldwäschegeschäften, spätestens seit dem 11. September 2001 auch verstärkt zur Terrorabwehr. Mit dem Terrorist Finance Tracking Program (TFTP) konnten amerikanische Behörden direkt auf SWIFT-Daten zugreifen und nutzten das zum Aufspüren der Geldquellen von Terroristen. Aber auch als Flaschenhals wurde SWIFT genutzt, als die EU in Absprache mit den USA 2012 Irans Banken praktisch aus dem Internationalen Verbund drängten.6

Komplizierter wurde die Lage, als die USA 2018 aus dem Atomabkommen mit dem Iran ausstiegen und die zwischenzeitlich gelockerten Sanktionen wieder einsetzen wollten. Die Europäer, die an dem Atomdeal festhalten, konnten die SWIFT-Sanktionen deswegen nicht mehr mittragen. SWIFT war gespalten und musste eine Lösung finden, die amerikanische und die europäische Linie unter einen Hut zu bringen. So schloss SWIFT zwar wesentliche iranische Institutionen aus, ließ aber den allgemeinen Verkehr mit dem Land grundsätzlich zu. Der deutsche Außenminister Heiko Maas ging so weit, ein eigenes, rein europäisches Interbankensystem als Möglichkeit ins Spiel zu bringen, um solche Konflikte in Zukunft zu vermeiden.7

Zusammenfassend kann man sagen, dass westliche Demokratien zwar davor zurückschrecken, im Zuge einer Politik des Flaschenhalses zivile Informationsströme zu kappen, sie aber die Machtkonzentration großer Plattformen nutzen, um sie als Waffe gegen ihre jeweiligen Gegner einzusetzen.

China ist derzeit weit weniger in der Lage, Plattformen international als Flaschenhälse zu nutzen. Die Möglichkeit dazu ergibt sich erst ab einer bestimmten Infrastrukturhegemonie, und die haben nur wenige chinesische Plattformen bereits erreicht. Doch die Sorgen mehren sich, dass das Land seine immer weiter reichenden Verbindungspunkte in die westliche Welt als Flaschenhals nutzen könnte. Insbesondere die Tatsache, dass China mittlerweile Besitzer und Anteilseigner einiger europäischer und noch mehr afrikanischer Häfen ist und zudem mit COSCO das drittgrößte Schifffahrts-Logistikunternehmen der Welt kontrolliert, sorgt für geostrategische Kopfschmerzen.8 Chinas Plattformhegemonie wächst in den letzten Jahren in vielen Bereichen beträchtlich.

Ein anderes wichtiges Feld, auf dem China eine hegemoniale Stellung anstrebt, ist künstliche Intelligenz. Schon jetzt agieren die Firmen des Landes auf Weltmarktniveau, und bis 2030 hat sich die chinesische Regierung die KI-Vormachtstellung zum Ziel gesetzt. Ein Netz aus chinesischen KI-Technologien von Start-ups wie Hikvision, CloudWalk Technology und aus Produkten wie Alibabas City-Brain-Plattform wird von Malaysia über Kenia bis Südafrika ausgerollt, und die Befürchtung besteht, dass sich der chinesische Staat dabei immer eine Hintertür offenhält.9 Huaweis Safe-City-Projekt zum Beispiel, das verspricht, Kriminalität in den Städten durch flächendeckende Videoüberwachung mit integrierter Gesichtserkennung ein Ende zu bereiten, wird überall auf der Welt eingesetzt. Schwerpunkte sind zwar vor allem Asien und Afrika,10 aber auch eine Kooperation mit Gelsenkirchen gibt es schon.11

  1. BBC: PayPal says it stopped Wikileaks payments on US letter, https://www.bbc. com/news/business-11945875, 08. 12. 2010.
  2. Bastian Brinkmann: Warum deutsche Firmen unter dem US-Embargo gegen Kuba leiden, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/us-embargo-gegen-kuba- ho-ho-wo-ist-die-buddel-rum-1.1125589, 27. 08. 2012.
  3. BBC: Adobe shuts down Photoshop in Venezuela, https://www.bbc.com/news/ technology-49973337, 08. 10. 2019.
  4. Vgl. Henry Farrell, Abraham L. Newman: Weaponized Interdependence: How Global Economic Networks Shape State Coercion, https://www.mit pressjournals.org/doi/full/10.1162/isec_a_00351, 01. 07. 2019.
  5. European Commission: Following an Undertaking by S.W.I.F.T. to Change Its Membership Rules, the European Commission Suspends Its Action for Breach of Competition Rules, Pressemitteilung IP/97/870, 13. 10. 1997, S. 2.
  6. United Against Nuclear Iran (UANI): SWIFT Campaign, https://www.united againstnucleariran.com/index.php/swift, Washington, D.C. 2012.
  7. Heiko Maas: Wir lassen nicht zu, dass die USA über unsere Köpfe hinweg han- deln, https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar- wir-lassen-nicht-zu-dass-die-usa-ueber-unsere-koepfe-hinweg-handeln/22933006.html?ticket=ST-7411926-oq4wHkumxAC3d7a6ElCc-ap1,21. 08. 2018.
  8. Christopher R. O’Dea: How China Weaponized the Global Supply Chain,https://www.nationalreview.com/magazine/2019/07/08/how-china-weaponized- the-global-supply-chain/, 20. 06. 2019.
  9. Ross Andersen: Chinese AI Is Creating an Axis of Autocracy, https://www. theatlantic.com/magazine/archive/2020/09/china-ai-surveillance/614197/, September 2020.
  10. Jonathan E. Hillman, Maesea McCalpin: Watching Huawei’s »Safe Cities«, https://www.csis.org/analysis/watching-huaweis-safe-cities, 04. 11. 2019.
  11. Jarrett Potts: Gelsenkirchen: A Small, Smart City with Big Plans, https:// e.huawei.com/en/case-studies/global/2017/201709071445.
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