Was ist Postprivacy (für mich)?

Gerade wird überall um den Begriff Postprivacy gerungen. Auch ich wurde schon oft gefragt, was das sein soll, ganz so, als ob ich eine Deutungshoheit über diesen Begriff hätte, oder auch nur eine durchdeklinierte Definition. Die habe ich nicht. Immer noch nicht, obwohl ich oft genötigt wurde, mir darüber Gedanken zu machen.

Ich habe dann immer geantwortet, was Postprivacy für mich bedeutet, welche Ideen ich damit verbinde. Meine Antworten fielen auffallend unterschiedlich aus. Sie widersprechen sich zwar nicht direkt, lassen sich aber eben auch nicht zusammenfügen zum großen Ganzen einer „Theorie der Postprivacy“.

Wie dem auch sei: ich wollte diese Antworten hier mal gesammelt aufschreiben, als eine Art Referenzpunkt, auf den ich mich beziehen kann, wenn jemand mich das nächste mal fragt, was ich für Postprivacy halte.

1. So wie ich das sehe, gibt es keine einheitliche Idee oder Definition von Postprivacy. Nicht mal (oder gerade nicht) bei der Spackeria. Ich finde das nicht schlecht, vielleicht sogar einen erhaltenswerten Zustand.

Postprivacy ist deswegen zunächst einmal eine Einladung zum Diskurs. Es ist die diffuse Feststellung, dass bestimmte Vorstellungen und Forderungen aus der analogen Welt nicht mehr so recht in die digitale passen und dass eben Redebedarf besteht. Dass Vorschläge gemacht, dass Ideen entwickelt und Alternativen ausgelotet werden müssen.

2. Ganz offensichtlich ist Postprivacy also eine lose Thesensammlung über die Gesellschaft und dem Zusammenhang von Transparenz und Toleranz. Es wird eine gewisse Verschränkung dieser beiden Modi angenommen und historisch hergeleitet. Dazu kommen verschiedene Annahmen über Macht/Gewalt und Privatheit und vielleicht noch ein Angriff auf eine Metaphysik der Innerlichkeit; konkret: der Behauptung, dass man nur in der Einsamkeit/Privatheit bei sich ist/zu sich findet.

Postprivacy ist also insgesamt erstmal nur eine Argumentierhilfe dafür, warum es nicht schlimm sein muss, wenn uns als Gesellschaft die Transparenz zustößt. Sie zeigt positive Effekte einer solchen Gesellschaftsform auf, die die negativen, die es zweifelsohne auch geben wird (ich komme noch dazu) zwar nicht negiert, aber sich ihnen gegenüberstellt. Postprivacy zeigt die Chancen auf, die sich bieten und die übersehen werden, wenn man sich nur auf das konzentriert, was verloren geht. Es ist die beruhigende Feststellung, dass nicht alles schlechter, sondern erstmal nur anders wird.

3. Postprivacy ist auch – so ist jedenfalls meine Meinung – der Zustand auf den unsere Gesellschaft unweigerlich zusteuert. Der Kontrollverlust führt aber nicht zur totalen Transparenz – das wird oft falsch verstanden. Der Kontrollverlust führt aber zwangsläufig in den Zustand, dass die Grenzen zwischen öffentlich/nichtöffentlich keine selbstbestimmte mehr sein kann. So dass ich nicht mehr weiß, was andere von mir wissen, dass ich mich in Zweifel auch nicht darauf verlassen kann, unbeobachtet zu sein, meine Identität und/oder meine Eigenschaften zu verbergen. Nicht alles ist öffentlich, aber ich bestimme nicht mehr, was öffentlich ist, oder nicht. Es gibt einen großen Unterschied zwischen totaler Transparenz und Kontrollverlust. Beides könnte man als Postprivacy beschreiben, aber ich glaube nur an zweiteres.

Postprivacy ist deswegen auf eine gewisse Art sogar schon Realität. Würde man jemandem von vor 10 Jahren den Lebenswandel eines Großteils heute lebender Menschen beschreiben, würde er mit Sicherheit zustimmen, dass man diese Gesellschaft als „postprivat“ charakterisieren könnte. Ebenso bin ich überzeugt, dass wir zwar in 10 Jahren in einer Gesellschaft leben werden, die die Menschen heute als „postprivat“ bezeichnen würden, dass aber auch in 10 Jahren die Menschen darüber diskutieren werden, ob die Postprivacy nun kommt, oder nicht. Postprivacy – so vermute ich – ist also immer schon gewesen und wird in Zukunft mit Sicherheit sein, wird aber aber nie in einem Jetzt stattgefunden haben.

4. Ich habe dennoch Verständnis dafür, dass manche das als Horrorszenario empfinden und ich will die Gefahren, die darin stecken keinesfalls verharmlosen. Ich bin überzeugt, dass dieser Wandel nicht problemlos von statten geht. Das tut er schon jetzt nicht (er ist ja im vollen Gange). In den arabischen Staaten war das Internet nicht nur die erste Öffentlichkeit, die sich der Protest suchte, sondern auch effektive Verfolgungs- und Überwachungsmaschinerie der Regime. In den USA haben sich zahlreiche Jugendliche umgebracht, nachdem sie als schwul geoutet und gemobbt wurden, oder gleich Videos von ihnen in’s Internet gestellt wurden. Der Kontrollverlust kostet – ganz real – Opfer. Opfer aber, denen kein je denkbarer Datenschutz hätte helfen können.

Deswegen sehe ich Postprivacy vor allem als Verantwortung. Sie steht in jener Verantwortung, die die Lücke des immer hilfloseren Datenschutzes hinterlässt. Wir sind verpflichtet einen Gesellschaftsentwurf vorlegen, in dem Staaten keine Möglichkeiten haben, Menschen wegen ihrer Meinung zu verfolgen. Wo Jugendliche mit den Schultern zuckern, wenn man öffentlich ihre sexuellen Präferenzen anspricht. Wo man dem Individuum zugesteht auch eine Vergangenheit zu haben und sich zu entwickeln. Postprivacy ist auch der Aufruf die gesellschaftlichen Probleme anzugehen, statt sie im Privaten zu verstecken.

Postprivacy ist deswegen für mich weniger eine „Utopie“, sondern viel mehr der Aufruf zur Utopie.

5. Postprivacy ist für mich das Bekenntnis diese Herausforderung anzunehmen. Es ist die grundsätzliche, persönliche Affirmation dieser gesellschaftlichen Wandlung hin zur Transprarenz, obwohl man um die Probleme weiß. Es ist das Bewusstsein darüber, dass sich mit den Umständen auch die Gesellschaft und die Kultur ändert und ändern muss. Und dass man diese Veränderung der Kultur und der Gesellschaft nicht nur begrüßt, sondern vorantreiben kann und auch sollte.

Postprivacy ist deswegen vielleicht – und ich glaub das ist durchaus beobachtbar – das zarte Pflänzchen eines neuen Mindsets, einer Ethik Daten gegenüber. Ich habe diese Ethik einmal als „das Radikale Recht des Anderen“ bezeichnet. Ich würde auch die Data Love Bewegung in diesem Kontext einordnen. Das alles hat sicher seine gedanklichen Wurzeln bei Steven Levy und der Auffassung, dass Informationen frei sein sollten, dass sie niemandem Gehören sollten und dass niemand ein Recht hat, sie zu kontrollieren.

Ich glaube aber, dass wir erst heute in der Situation sind, wirklich erfassen zu können, was das bedeutet. Und ich glaube, Postprivacy sind die, die diese Werte anzunehmen bereit sind, obwohl sie von den Kosten wissen.

6. Postprivacy ist aber – ganz besonders in dieser basalen Form einer kommenden Ethik – keine Politik. Es ist keine Forderung sich nackt zu machen, alle Hüllen fallen zu lassen, sich transparent zu machen. Postprivacy ist nicht die Lösung für irgendwas und es gibt meines Wissens niemanden, der so etwas fordert. Postprivacy ist auch keine Rosa von Praunheimsche Fremd-Outing-Welle. Es ist nicht das Reißen an dem Schleier, sondern das einseitige, freiwillige lüften des eigenen Schleiers dem anderen Gegenüber. Es ist vielmehr ein Angebot zur Abrüstung, das jeder nur für sich selbst unterbreiten kann.

Postprivacy tritt nicht auf, um Transprarenz politisch für alle zu verankern, sondern höchstens um für Transparenz zu werben und zu argumentieren und bestenfalls sie vorzuleben. Postprivacy ist vielleicht – wenn man sie weiterdenkt – sogar das Ende einer jeden Forderung des „Soseins“ an das Individuum und insofern tatsächlich radikal unpolitisch. Sie ist – und das ist vielleicht die kühnste und utopischste Vision, was Postprivacy sein kann – das Ende jeder allgemeinenMoral“ und das Ende des Zwangs zur Anpassung.

Fazit: Selbst für mich ist Postprivacy also vieles und in sich heterogenes. Diese Auflistung soll nun nicht als „Manifest“ gelesen werden. Die Idee der Postprivacy, wie ich sie verstehe, widerspricht jeder Manifestation. Und die Forderungen, die vor allem immer wieder an die Spackeria herangetragen werden, doch einmal ein für alle mal zu definieren, was sie will und die Forderung, dass sie sich personal abgrenzen und identifizieren soll, widerspricht dieser identitären Freiheit, für die Postprivacy steht.

Klar, ist das verwirrend und unbefriedigend. Genau so verwirrend und unbefriedigend wie das Idividuum, das in Wirklichkeit nie eine einheitliche, kohärente Identität ausbildete, sondern höchstens in einigen Rollen zu spielen wusste. Die Akzeptanz und das Leben mit diesen Brüchen und Idiosynkrasien ist wahrscheinlich die größte Herausforderung der Postprivacy. Und deswegen ist die Spackeria und der diffuse Begriff der Postprivacy selbst eigentlich keine schlechte Übung.

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