Wir, das Bücherregal, Twitter und mein mentales Exoskelett

Das hier ist jetzt nicht allzu leicht für mich. Man könnte mich schnell in eine esoterische Ecke schieben, denn ich versuche, etwas zu beschreiben, was, wie ich finde, ein Lebensgefühl ausmacht, das aber neu ist. Eines, das ich derzeit erlebe, aktiv erlebe, mit anderen zusammen und ich glaube, ich bin nicht der einzige, der mit Worten ringt, das in einen nach außen nachvollziehbaren Rahmen zu kleiden. Vielleicht ist das aber auch der Trick: Es nicht alleine zu versuchen, sondern gemeinsam die Welt zu entdecken und zu beschreiben.

Ich schätze, deswegen mag ich Kommentare. Zu meinem letzten Posting kamen einige; viele davon sehr wertvoll und fundiert. Manche waren auch sehr kritisch, aber um ehrlich zu sein, hätte ich mit weitaus mehr Gegenwind gerechnet. Gerade der Gegenwind zwingt einen ja, über sich hinaus zu wachsen.

Einer der Kommentatoren kritisierte, dass ich die prähistorische Archäologie in Verbindung mit „Müllanalyse“ brachte. Ich gebe zu, ich hatte das einfach mal in die Welt hinein behauptet, war mir aber sicher, dass ich etwas dazu gelesen hatte. Ich mache das oft so. Ich greife ungefragt auf mein „implizites Wissen“ zurück. Relativ zielsicher zog ich dann das Buch „Die Aktualität des Archäologischen“ aus meinem Bücherregal, blätterte ein paar Seiten und fand dort einen gut durchrecherchieren Essay von Dietmar Schmidt, den ich mal gelesen hatte, auf den ich meine Aussagen stützte und weiterhin stützen kann. Denken spielt sich nicht nur im Gehirn ab, das wissen wir nicht erst seit Niklas Luhmann, der immer behauptete, mit seinem Zettelkasten zu denken. Auch mein Bücherregal ist ein Teil meines Denkapparates. Ich ziehe es deswegen seit dem Studium vor, Bücher zu kaufen, statt zu leihen. Denn etwas gelesen zu haben ist, wie einen Suchindex anzulegen; so wie Google es mit dem Web tut. Diese Bücher sind deswegen mehr als sie selbst und mein Gehirn ist mehr als nur meine Erinnerung — ihr jeweiliger Wert füreinander besteht in ihrer gegenseitigen Vernetzung. Wenn aber der Index auf ein Buch verweist, das nicht mehr zugegen ist, ist meine Denkleistung gemindert.

Mit dem Internet hat sich dieses Vorgehen radikalisiert. Wir googeln, schlagen bei Wikipedia nach und bald – so hoffe ich inständig – kann ich auch mein Bücherregal auf den Sperrmüll werfen und die Bücher irgendwo verschenken, sofern Google es schafft, sein Googlebooks annähernd vollständig auch auf deutscher Sprache anzubieten.

Zurück zu den Kommentaren im Blog. Ich habe, indem ich auf Kritik an meinem letzten Blogpost einging, wieder bereits neue Themen gefunden, die ich hier ausbreiten werde. Fast alle meine halbwegs brauchbaren Gedanken entstehen nämlich nicht aus mir alleine. Sie entstehen im Gespräch, in der Konfrontation, dem ständigen Argumentieren-müssen. Kommentare sind ein Weg auch kreativ zu denken. Sie machen mich auf Fehler und Ungereimtheiten aufmerksam, sie zwingen mich dazu, Standpunkte zu
präzisieren oder Fehlschlüsse einzuräumen. Sie pfropfen meinen Themen neue Perspektiven auf und reichern mein Geschriebenes an, mit neuen Informationen. Sie sind eben kein ausgelagertes Gedächtnis, wie es mein Bücherregal ist, oder gar wie Wikipedia – dieses Bücherregal der Menschheit. Sie sind eine Form der Exterritorialisierung des Denkens selbst!

Es hat Ähnlichkeit mit dem, was Kevin Kelly als Hivemind bezeichnete und heute unter dem Label Schwarmintelligenz oder Kollektive Intelligenz firmiert. Ich kann mich aber nicht so recht mit diesem Begriff anfreunden. Es mag eine nette Idee sein, dass wir uns zu etwas anderem, viel größeren als wir, wie die Bienen zum Bienenstock verhalten. Aber selbst wenn es so wäre, bliebe dieses Etwas abstrakt und nicht erfahrbar und im Endeffekt vermutlich auch erstmal egal. Es gibt nämlich keine Realitätsebene die diesen Bienenstock, dieses Etwas, beobachten könnte. Es ist und bleibt eine Frage der Perspektive und dies ist meine Perspektive, dies ist mein Blog. Mich interessiert der Hivemind nicht, so lange er nicht mein Hivemind ist, spürbar, bewegbar und rückgekoppelt und synchron mit in meiner Realität!

Mein erstes Augmented Reality-Erlebnis hatte ich Anfang 2008 mit Twitter. Ich hatte mich für den Abend mit einem Freund verabredet. Ich stand am Kottbusser Tor und das ist kein besonders netter Ort, um dort auf jemanden zu warten. Seit Twitter aber hat man ja eine Wartebeschäftigung: Klar, man twittert, dass man wartet. „Warte auf x. Treffpunkt Kottbusser Tor. Na danke!“, war der Tweet glaube ich. Es dauerte keine zwei Sekunden und es trudelte eine Nachricht des Nutzers Horax ein: „Fahre an mspro [Anmerkung von, ja, mir: das bin ich] vorbei.“ Ein paar Sekunden später dann die Nachricht von Nutzer Sebaso: „Fahre an mspro und horax vorbei.“ (Alle Zitate aus dem Kopf, ähh, reproduziert.)

Wir drei waren uns ganz nah. Ich stand da draußen am Kottbusser Tor, Horax fuhr mit der U-Bahn in die eine, Sebaso in die andere Richtung. Wir waren einander in Rufweite, ohne uns zu sehen. Trotzdem war es nicht abstrakt, nicht nur drei Punkte auf einer Karte, nicht einfach die in Kilometern abgetragenen Entfernungsinformation. Es war ein Moment der Nähe, ohne dass wir uns sinnlich wahrnahmen – doch, irgendwie ja schon auch sinnlich. Meine Twittertimeline wuchs mir in diesem Moment zu einem Sinn. Man nennt Augmented Reality ja auch nicht umsonst den „Sechsten Sinn„.

Ich kann nur darüber spekulieren, was diesen Moment so greifbar machte, was diese Präsenz spürbar machte. Vielleicht weil ich nicht nur erfuhr, dass die beiden an mir vorbei fuhren, sondern ich auch expliziten kommunikativen Zugriff auf sie hatte, per Twitter. Und zwar in Echtzeit.

Echtzeit ist ein Begriff, der seit 2009 enorm an Fahrt aufgenommen hat. Insbesondere im Bezug auf Twitter wird dieser Begriff gerne bemüht. Twitter sei ein Vorbote des Echtzeit- Webs, betont zum Beispiel Sascha Lobo immer wieder. Auch Frank Schirrmacher widmet dem Begriff „Echtzeit“ ein eigenes Kapitel in seinem Buch und ein paar Artikel. Irgendwie finden den Begriff alle total krass wichtig, aber keiner kann so genau begründen, warum. „Echtzeit“ – heißt das nun einfach „unglaublich schnell“? Ist es, dass wir 20 Minuten vor den meisten anderen Menschen vom Tod irgendeines Popstars erfahren? Ich kann mir zwar vorstellen, dass einige Journalisten sowas unglaublich toll finden, aber allen anderen dürfte dieser Umstand jedoch herzlich egal sein. Mir ist er es jedenfalls.

Nein. Echtzeit beschreibt keine Beschleunigung von irgendwas (das ist zwar die Ursache aber nicht das, worum es geht), sondern definiert einen Handlungsraum, der vorher nicht da war. Es macht einen Unterschied, wenn ich innerhalb von Sekunden auf eine Nachricht reagieren kann und gleichzeitig Zugriff auf den Absender habe. Dann erweitert sich meine gestaltbare Realität in diese andere Welt hinein, in diese andere Wahrnehmung, die vorher nur eine Ansammlung von Zeichen blieb. Kommen wir zurück auf mein Bücherregal. Wenn ich etwas aus der Vagheit meines impliziten Wissens explizieren will, dann muss ich meinen Bücherschrank mit meinem Gehirn synchronisieren. Das geht nur, wenn ich die Bücher vorrätig habe. Müsste ich erst raus, in die Bibliothek, würde ich vermutlich meistens den Aufwand scheuen, außerdem wären mir die Gedanken dann nicht mehr präsent genug, um sie anknüpfen zu lassen. Mein Bücherregal ist somit eine Echtzeitbibliothek. Aber manches kann mein Bücherregal nicht: Es kann mich weder überraschen, noch kann ich ihm etwas mitteilen, auf das es reagieren könnte. Es ist nicht kreativ. Twitter aber reicht von hier, wo ich sitze, jederzeit in tausende Gehirne rein. Ich bin über diese rudimentäre Schnittstelle mit all diesen Menschen und ihren Weltwinkeln verbunden. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht mir, sondern ihrer Timeline. Aber ich habe bei manchen die Möglichkeit dort aufzutauchen. Auf der anderen Seite gebe ich hunderten von mir händisch ausgewählten Menschen die Möglichkeit, jederzeit in meiner Aufmerksamkeit aufzutauchen und ihre Informationen in mich hinein zu gießen. Dabei entsprechen die 140 Zeichen, die man bei Twitter zur Verfügung hat, ziemlich genau einem Gedanken. Zusammen stellt das eine enorme Ressource an Fremddenken zur Verfügung, die in Echtzeit in mich hineinragt und mit der ich in andere hineinrage. Und diese Ressource ist nicht irgendwo, in irgendeinem einem Rechenzentrum oder wartet bei mir zu hause. Nein, sie steht mir jederzeit und überall zur Verfügung, wo auch immer ich mich aufhalte! In meiner Tasche habe ich ein Smartphone. Es führt die Redensart „in’s Internet gehen“ ad absurdum. Ich bin im Internet, immer und zu jeder Zeit. Ich kann von unterwegs Dinge nachschlagen, Fragen stellen, kommunizieren. Ich kann so ziemlich alle Algorithmen des Internets für mich anwerfen, wohl gemerkt: während ich zur S-Bahn laufe. Als ich Silvester vor zwei Jahren eine Party suchte, die in Googlemaps falsch eingetragen war, brauchte ich nur in den Twitterraum zu fragen und erhielt innerhalb von Sekunden den richtigen Standort und eine Wegbeschreibung.

Mein Smartphone ist ein nicht ganz unwesentlicher Teil von mir geworden. Ohne es fühlte ich mich unvollständig. Kenneth Craik erfand den Begriff des „Mentalen Modells„. Wir verarbeiten die Dinge, die wir erleben und lernen, indem wir sie in ein komplexitätsreduziertes Modell in unserem Geist überführen. Wenn wir mit diesen Gegenständen dann im Kopf hantieren, tun wir es in Wirklichkeit mit diesen von uns selbst erstellten Modellen. Arnold Pick wiederum erfand den Begriff „Körperschema“ nach dem wir ein mentales Modell unseres Körpers haben, um unsere Bewegungsabläufe zu koordinieren. Werkzeuge – also Erweiterungen – werden in dieses Modell integriert. Wir haben ein mentales Modell des Autos, wenn wir es steuern, das so wie eine Erweiterung dieses Körperschemas funktioniert. Rückwärts Einparken wäre sonst – ich sag mal: schwierig.

Marshall McLuhan hat die Medien genau so beschrieben: als „Extension of Man„, aber erst heute gibt es die Anwendungen dafür. Die Extension meines Geistes ist heute erst wirklich spürbar. Die Medien werden so unmittelbar wie eine Prothese – oder eben ein Auto. Ich kann sie schwenken, wie einen Stock in der Hand, weil sie in Echtzeit auf mich reagieren. Wenn etwas derart zugänglich und allzeit bereit ist, fängt man unwillkürlich an, damit zu rechnen. So wie mein Denken die Referenzen meines Bücherregals mit einbezieht – also die bloße Möglichkeit jederzeit darauf Zugriff zu haben – verlässt sich mein Denken darauf, jederzeit die Antwort auf eine Twitterumfrage oder eine konkrete Wissensfrage zu bekommen. Twitter ist ein Breitbandanschluss an eine individuell zusammen gezüchtete Hirnwolke. Alles was ich dort rein schreibe, wird sofort reflektiert, beantwortet, weitergeleitet, hinterfragt, auf die Schippe genommen und zurück gespiegelt. Aus mir beginnt etwas zu heraus zu wachsen. Mein Bewusstsein fühlt sich anders an. Ich spüre da eine merkwürdige Weite. Das mentale Modell meines Bewusstseins endet weder an meiner Stirn, noch an meinem Bücherregal. Um ehrlich zu sein: es endet überhaupt nicht mehr. Ich beginne mich aufzulösen in diesem Echtzeitstrom und gleichzeitig habe ich das Gefühl, mir mein Bewusstsein selber zu gestalten. Es ist die absolute Macht in der absoluten Machtlosigkeit. Ein gelebtes Paradox. All dies spüre ich aber nur im Ansatz. Es ist vielmehr eine Ahnung davon, die derzeit davon spürbar ist. Wir betreten gerade erst Neuland und die Technik steckt noch in den Kinderschuhen. Ich weiß nur: Augmented Reality wird genau das sein: Die Entgrenzung des Denkens, die immer weitergehende Unmittelbarisierung („die totale Verimmerung„?) von sozialen Filtern und die allseitige Bereitstellung von immer mächtigeren Algorithmen in echtzeit.

Ich glaube, Frank Schirrmacher hat unrecht, wenn er sagt, dass das Denken aus den Köpfen in die Maschinen auswandert. Nein, es bleibt bei mir, aber es knüpft sich an andere Sphären. Es ist kein Entwederoder, sondern ein Sowohlalsauch. Das Denken wird so ortlos wie ein bestimmtes Bit auf den Servern von Google. Und das Ziel des Exodus sind eben nicht in erster Linie Maschinen (auch, aber derzeit noch sehr begrenzt), sondern andere Menschen: von mir selbst zusammengestellte soziale Filter, wie die Followings auf Twitter oder die Abonnements meines RSS-Readers. Es sind intersubjektive Erweiterungen des Denkens und des Bewusstseins. Wir werden im Internet alle Teil des mentalen Exoskelettes des anderen sein. Es ist die individualisierte Entindividualsierung! (Über die schwierige Frage der Identität werde ich mich ein andermal tiefer auslassen.)

Im Laufe dieser Verwandlung werden wir die Kontrolle über beinahe alles verloren haben, was wir selbst zu seien glaubten und von dem wir dachten, dass es unser natürlicher Besitz sei. Wir werden dafür eine völlig andere, ungekannte Kontrolle über beinahe alles andere gewinnen, eine durch und durch transparente Welt und ein damit einhergehendes Weltverständnis, das weit über alles ragt, was wir heute glauben, überhaupt wissen zu können. Das ist das, was ich heute, aus meinen Erfahrungen heraus, mich traue hier öffentlich zu prognostizieren.

Und: Nietzsche ist ja gar kein Ausdruck!

(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)

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4 Kommentare zu Wir, das Bücherregal, Twitter und mein mentales Exoskelett

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