Wikileaks Kontrollverlust

Stehe! Stehe!
Denn wir haben
Deiner Gaben
Vollgemessen! –
Ach ich merk es, wehe! wehe!
Hab ich doch das Wort vergessen!

Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling

In meinem ersten Artikel über Wikileaks schrieb ich:

Der Kontrollverlust hat einen Kulminationspunkt gefunden: Wikileaks. Wikileaks ist für den Kontrollverlust das, was die New York Times für den Journalismus war ist. Die wichtigste Institution und das Paradebeispiel seiner Funktionsweise. Kein Monopol, aber ein Sinnbild.

Und ja, mit und durch Wikileaks lässt sich das Phänomen „Kontrollverlust“ gut erklären, deswegen tue ich das immer wieder. Und auch diesmal haben die Jungs um Julien Assange ein weiteres Lehrstück inszeniert und dabei eine weitere Erkenntnis bewiesen:

Wikileaks hat gezeigt, dass der Kontrollverlust kein Subjekt und kein Objekt kennt und vor allem, dass er keine Metaebene hat. Es gibt kein Außerhalb des Kontrollverlusts.

„Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt.“

(via)
Ein Kontrollverlust ist immer ein notwendig subjektiver, wenn auch kein ausschließlich menschlicher. Aber es braucht einen Akteuer (oder Akteure), Leute die handeln, die kommunizieren und die glauben, Herr dieser kommunikativen Handlungen zu sein.

So jemand wie Assange. Er stellte die gesamte Datenbank der Cables online. Aber er verschleierte diese Tatsache, versteckte die Datei und verschlüsselte sie. Das Verstecken ist kein wirksamer Schutz, das weiß auch Assange. Aber die Verschlüsselung schon. Jeder kann an die Datei, aber keiner kann sie öffnen. Was soll schon passieren?

In Gesprächen mit Journalisten, denen er Einblick in die Daten geben will, nennt er das Passwort. Er schreibt es auf. Aber nur einen Teil. Einen anderen muss sich der Journalist merken. Es ist ein langes Passwort. Ein sicheres Passwort. Die Journalisten sind redlich. Klar, das Passwort müsste jetzt mal geändert werden … morgen vielleicht. Aber was kann schon passieren?

Als Wikileaks seine Domain verliert und Hacker weltweit anfangen die Inhalte des Wikileaks-Server zu spiegeln, fließt bei Assange sicher eine Träne ob dieser demonstrierten Solidarität. Dann ein kurzer Stich in’s Bewusstsein. Moment, die Daten! Ach, sind ja verschlüsselt. Was soll schon passieren?

Als der Journalist David Leigh vom Guardian sein Buch herausbringt, muss es Assange eiskalt den Rücken runter gelaufen sein. Er rennt an die Konsole. Bloß schnell das Passwort ändern!. Bis er sich fragt, wie er das Passwort auf den anderen 1426 Servern ändern soll. Und auf Bit-Torrent?

Auch der Guardianjournalist hat sich nichts dabei gedacht, das Passwort zu veröffentlichen. Sind doch Profis! Das ist doch sicher längst geändert wenn das Buch draußen ist. Er denkt nicht an die Möglichkeit, dass die Datei bereits tausendfach herumschwirrt. Was soll schon passieren?

Assange beschließt still zu halten. Noch ist nichts passiert.

Es sind alles Handlungen, die nachvollziehbar sind. Jede der Handlungen hat sich sicher angefühlt. Alles kann man rechtfertigen. Jede Handlung für sich. Aber es sind Punkte, die, wenn sie verbunden werden, unweigerlich zum Kontrollverlust führen.

Herausgekommen ist ein Datenhaufen, der sich zunächst wie ein Wirrwarr von unstrukturiertem Chaos verhält. Das Chaos liegt in der Welt und wartet auf denjenigen, der die Datenspuren verknüpft. Es fehlt nur die richtige Query.

Wir wissen nicht genau, wer die Query bewerkstelligt hat. Ob es Daniel Domscheit-Berg war, der den Hinweis gab, wie Assange öffentlich vermutet, oder ob es ein paar andere Hacker waren, die die Datei entdeckten und das Passwort aus dem Guardianbuch ausprobierten. In Hackerkreisen zirkuliert die entdeckte Datei und das Passwort jedenfalls schon, als der Freitag den Hinweis bekommt. Das weitere ist Geschichte.

In meinem letzten Wikileaks-Artikel schrieb ich:

Wikileaks mag ein Wetterphänomen sein, aber dahinter steht ein globaler Klimawandel, der sich mit atemberaubenden Tempo auf der Welt ausbreitet. Wenn das politische Hinterzimmer nicht mehr sicher ist, warum sollte es private Zimmer sein? Der Kontrollverlust ist im Internet schon immer angelegt und überragt Domscheit-Berg ebenso wie Julien Assange, den CCC und all ihre kleinlichen Befindlichkeiten. Das ist nicht mehr ihre Revolution. Sie läßt die Hacker auf eigentümliche Weise antiquiert aussehen. Aus dem Cyberpunk wird mehr und mehr ein Zauberlehrling. Und das Bier aus dem Automaten ist eh alle.

Ich bleibe dabei.

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Ein Kommentar zu Wikileaks Kontrollverlust

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