Dies ist eine Wiederbelebung. Es ist der Initialpost dieses Blogs, das wiederum nicht neu ist. Ich habe es bereits 5 Monate lang bei der FAZ geführt, wo es nach einem unschönen Streit im Juni – irgendwie – naja, „verschwunden“ ist. Nicht mehr erreichbar auf jeden Fall. Irgendwie depubliziert, wie man heute sagt. Ich hatte mir vorgenommen und auch versprochen, die Texte wieder online zu stellen, was hiermit geschehen ist. Ich bedanke mich bei der FAZ, die mir dies erlaubt hat.
Doch geht das überhaupt? Kann ich die Texte, die damals neu waren, heute als „Instantware“ an einem neuen Ort veröffentlichen? Wie anders sich ein Blogartikel zum klassischen Text verhält, merkt man, wenn man ihn „verpflanzen“ will. Jeder Post, den ich damals schrieb, war immer auch ein kommunikatives Ereignis, das nicht ohne Spuren blieb. Die Ideen wurden aufgenommen, weiter gesponnen, retweetet, kritisiert und verlinkt. Ein Blogpost steht eben nicht für sich, sondern ist bestenfalls eine Initialzündung zu einer weit gestreuten Diskussion, die den Text selbst weit übersteigt. Und schließlich wird der Text teil eines Gewebes aus Links, Bezügen, Kommentaren und Widersprüchen sein. Das was Foucault mit dem abstrakten Wort „Diskurs“ zu bezeichnen versuchte, wird im Internet zur greifbaren Struktur.
Diese Struktur ist verloren. Ich habe zwar die internen Links umgebogen, um die Lesbarkeit wieder herzustellen, aber alle „incoming Links“ von außerhalb auf die Artikel werden weiterhin ins Leere weisen (Es sei denn, die damaligen Autoren lassen sich hinreißen, ihre alten Artikel zu überarbeiten.) Auch sehe ich mich nicht in der Lage, die vielen Kommentare zu rekonstruieren, was ebenfalls ein Verlust ist. Ein Verlust – das ist ja meine Kernthese – der heute nicht abschätzbar ist, weil die Tools, die all diese Metainformationen in neue Betrachtungsweisen überführen, erst noch geschrieben werden.
Andererseits ist dieses Blog eben auch nicht in erster Linie ein Archiv alter Texte, sondern vor allem ein Neubeginn. Die alten Texte sollen weniger als Aktenlager, sondern als offene Anschlußstellen fungieren, an denen sich neue Thesen und Texte knüpfen können, um eine sich verselbständigende Maschine in Gang zu setzen, die hunderte Gehirne vernetzt, arbeitet, denkt und sich dabei immer wieder selbst reproduziert. Eine Diskursmaschine, die all die losen Enden der Thesen vom Kontrollverlust aufsammelt und zu einer lebendigen Theorie des Kontrollverlustes verknüpft.
Ich bin zuversichtlich. Nicht nur für die neuen Texte, die hoffentlich jeweils neue Ereignisse zeitigen werden, um sich ein Gewebe knüpfen, sondern auch für die alten, archivierten Texte. Der Kontrollverlust besagt, dass alle Daten durch neue technische Verknüpfungsmethoden immer neue Anknüpfungspunkte generieren. Radiokohlenstoffe gibt es seit wenigen Millionen Jahren nach dem Urknall, aber heute erst haben wir Abfragesysteme entwickelt, die diese zum Datieren von Essensresten zwischen den Zähnen von Menschen nutzen, die seit vielen tausend Jahre tot sind. Im Internet werden immer neuere, raffiniertere Abfragesysteme und Verknüpfungsalgorithmen entwickelt. Sei es die zunehmende Verknüpfbarkeit aller Tätigkeiten und Äußerungen mit Geokoordinaten, seien es die immer besser werdenden automatischen Übersetzungsdienste, die heute schon auf einen Klick viele Sprachgrenzen effektiv einreißen oder sei es die biometrische Gesichtserkennung, die jedes der Milliarden Fotos im Netz zu einer verknüpfungsbereiten Datenbank werden lassen wird. Wir leben in sich beschleunigenden Zeiten und haben erst jetzt gemerkt, dass wir bereits vorgestern den Tipping-Point überschritten haben.
Was soll ich mir also Gedanken um die mangelnde Vernetzung meiner Texte machen? Die große Vernetzung – so scheint es – steht erst noch bevor. Dann, wenn der ganz Andere mit heute noch undenkbaren Algorithmen über das Blog fegt, um etwas ganz anderes, als ich dort hineinzulegen glaubte, zu lesen. Dieser unbekannte Andere mit seinen nicht vorhersehbaren Techniken und seinen unvorstellbaren Fragen, ist das Maß aller Daten. Alle Daten sind eine Flaschenpost durch die Zeit; adressiert an den Unbekannten, den ganz Anderen.
Zum Beispiel den Literaturwissenschaftler. Im Zuge meines Studiums war die Literaturwissenschaft eines der wichtigsten Themengebiete, das mir ein vertieftes Verständnis dessen ermöglichte, was wir heute technologisch erleben. Ich untersuchte Brechts literarischen Umgang mit den Ereignissen am 17. Juni 1953. Ein Schriftstellerleben hat dabei den Vorteil einer ungewöhnlich dichten Archivhinterlassenschaft. Klar, ich stand auf den Schultern von Giganten, als ich mich durch die gesammelten Werke, die zusammengestellten Gedichte, die editierten Tagebucheinträge und die gebundene Sammlung seiner Briefe arbeitete. Archivtechniken der Aufbereitung, Auswahl und des Drucks sind die herkömmlichen Ordnungstechniken, aber doch nur der Absprungpunkt für die eigentliche Arbeit des Anderen – der in diesem Fall ich war. Das Sich-hineinbegeben in die Welt, die Spannungen, die Gedanken, die Sorgen, die Werte, die Umstände – also all der Prämissen des Handelns eines Autors war mein erstes transhumanistisches Erlebnis. Wenn man nämlich versucht, aus all diesen Texten eine lauffähige Simulation seines Geistes auf der „Engine“ des eigenen Gehirns zu erstellen, um ihn zu befragen, wie man ein Gespenst beschwört, dann stellt sich die Frage nach dem Tod neu. Wie tot ist jemand, den man – den tausende – immer wieder zum Leben erwecken, um ihn mit immer neuen Fragen zu konfrontieren? Wie tot kann jemand sein, der mir doch heute andere Dinge sagt, als er meinen Eltern gesagt hat und ihnen wiederum anderes, als er damals aufschrieb? Der – da bin ich mir sicher – in hundert Jahren noch Dinge sagen wird, die wir heute noch gar nicht ahnen.
Was, wenn der „Tod“ nur ein Mangel an Anschlussfähigkeit wäre? Wenn „Vergangenheit“ nur den Schwierigkeitsgrad einer umfassenden Verknüpfung von Datenenden bezeichnete? Eine Schwelle, die – das ist der Kontrollverlust reloaded – im Laufe der Zeit immer weiter ins Bodenlose verschwindet? Wenn also auf allen geschlossenen Akten ein kleines aber immer größer werdendes „zur Wiedervorlage“ stehen würde?
Wenn man sagt, dass die Entwicklung der Abfragetechniken von Daten diese immer neuen Verknüpfungen zuführt, dann sind meine Daten morgen lebendiger als heute und übermorgen lebendiger als morgen. Dann ist es ganz natürlich, dass wir heute über historische Personen mehr wissen, als ihre Eltern über sie wussten und dann wird die Zukunft mehr über mich wissen, als ich mir heute vorstellen kann, was man über einen Menschen überhaupt wissen kann.
Wie wird eine Literaturwissenschaft der Zukunft an einem heute zeitgenössischen Autor arbeiten? Mit welcher Software wird man sich durch die ganzen Mails, Chats, Blogartikel, Tweets, Statusmeldungen, Pinnwandeinträgen, Location-Checkins, Textfragmenten – oder gar: Cookies, Browserhistories, Dateifragmenten gelöschter Festplatten, Feedrederabonnements, temporären Dateien, Spamfiltereinstellungen, Playlists, unbeantworteten Freundschaftsanfragen, etc. arbeiten? Und was könnte eine intelligente, alles miteinander verknüpfende Software daraus bauen? Welche dynamische Form würde man schaffen, um aus dieser Datenhalde, die ein gelebtes Leben gewesen sein wird, wieder ein verstehbares, befragbares Etwas zu machen? Die endgültige Verletzung der Privatsphäre ist die Auferweckung der Toten.
Und gleich im Anschluss die Frage: wo ist die Grenze? Wie viele Daten wird man brauchen, um einen Menschen (oder etwas seinem Denken ähnlichem) wieder aufzuwecken? Oder besser: wird es eine solche endgültige Grenze überhaupt geben? Wird diese Grenze aus der Zukunft mit immer besseren Techniken, die immer weniger Rohdaten benötigen zurück durch die Zeit rollen, sich Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert durch die Zeit fressen, das heutige Heute überschreiten – bis zu den heute längst Toten? Oder noch mal anders: Hat die Vergangenheit überhaupt noch eine Zukunft? Oder die Zeit an sich?
Es wird Zeit, dass wir von dem Paradigmenwechsel des Kontrollverlusts – des Endes aller Ordnungstechnik – zum Paradigmenwechsel im Denken gelangen. Dass wir unser Sein und unser Handeln im Jetzt nicht mehr von der Vergangenheit – und damit vom Subjekt – her verorten, sondern die kopernikanische Wende vollziehen und es vom Anderen her – aus der sicheren Ungewissheit einer unvorstellbaren Zukunft her denken. Wir müssen einen Blick auf uns selbst einüben, für den unser eigener auf das Historische insofern ein Vorbild ist, als er das Maß der Unvorstellbarkeit erahnen lässt, wie wir einst gesehen werden.
Wie gesagt, ich mache mir keine Sorgen um die Vernetzung meiner Texte.
* * * * * * * *
[HANDBUCH: Alle aus dem FAZ-Blog importierten Artikel finden sich in der Kategorie FAZ-Import. Da ich nur die Texte hatte, musste ich die Daten teilweise rekonstruieren. Das Erscheinungsdatum ist also oft nur geschätzt. Allerdings sollten die meisten Pi mal Daumen stimmen und die Reihenfolge sollte auch richtig sein.
Ich habe einige wichtige Texte, die in der Zwischenzeit entstanden sind und die sich mit dem Kontrollverlust beschäftigen ebenfalls importiert. Sie finden sich unter der Kategorie extern und bestehen nur aus einem Anreißer zum Weiterklicken. Ich tat das vor allem der Vollständigkeit halber, damit alle wichtigen Veröffentlichungen von mir zu dem Thema hier versammelt sind und werde so auch in Zukunft mit extern geschrieben Texten zum Thema verfahren.
Alle neuen Artikel werden unter der Kategorie reloaded gepostet werden. Ich glaube tatsächlich, dass sich mein Denken des Kontrollverlusts entscheidend weiterentwickelt hat, so dass eine solche „Kehre“ gerechtfertigt ist. Wer mir das so jetzt noch nicht glaubt, der übe sich bitte in Geduld und Zuversicht.
An dieser Stelle bleibt mir nur, meinem Freund Mark Wirblich (@mightym) ganz herzlich für das gelungene Redesign zu danken, das mit zu dem Besten gehört, was ich an Blogdesigns bisher gesehen habe. Vielen lieben Dank!]
Pingback: Angelegenheiten - TdM // September 2010
Pingback: Archivgeil « H I E R
Pingback: Warum wir Dinge ins Internet schreiben – mspro « SocietyCon
Pingback: Thorstena » Boulevard II
Pingback: Kontrollverlust reloaded – Zur Wiedervorlage | ctrl+verlust – uxMemo
Pingback: Warum wir Dinge ins Internet schreiben | ctrl+verlust