Warum wir Dinge ins Internet schreiben

Ohne den Inhalt des Buches von Jeff Jarvis abzuwarten, will ich ein paar mögliche Antworten auf die Frage in den Raum werfen, warum wir Dinge ins Internet schreiben.

Anlass ist diese schöne Debatte hier auf Google Plus, die sich wiederum auf diesen Artikel von Frank Schirrmacher bezieht, der einen etwas doofen Titel und am Ende eine entsprechende Forderung hat, aber bis dahin eine interressante Auseinandersetzung mit Internet und dem gesellschaftlichen Gedächtnis bietet.

Nur eines kam mir sowohl in dem Artikel, als auch in der Diskussion zu kurz: Wenn es so ist, dass wir Menschen immer mehr Informationen in das Internet externalisieren, dann hat das einen Grund. Oder zwei, oder drei. Wir scheinen einen Nutzen zu ziehen und einen Sinn darin zu sehen, sonst würden wir das ja nicht tun.

Einige Antworten, die mir im Laufe der Zeit eingefallen oder mir zugeflogen sind, will ich hier aufzählen:

1. Erinnerung

Das ist der einzige Punkt, den Schirrmacher in seinem Text anspricht: die Erinnerung. Gut, er bezieht sich noch auf Deb Roy, der zu teils wissenschaftlichen Zwecken, das Aufwachsen seines Sohnes detailliert dokumentierte.

Wenn wir etwas ins Internet auslagern, dann brauchen wir uns diese Information nicht mehr zu merken. Das war auch das Ergebnis der Studie auf die sich Schirrmacher und andere beziehen. Wir haben also den Kopf frei für anderes, wichtigeres. Wir erweitern dadurch also auch unsere geistigen Kapazitäten, können mehr Information verarbeiten, etc. Frédéric Valin hat diesen Umstand in der taz sehr schön eingeordnet:

„Man muss nicht ad hoc darauf antworten können, ob Benjamin Franklin jemals Klavierunterricht erteilt hat oder ob alle Länder mindestens zwei Farben in ihrer Flagge haben – zwei Beispielfragen aus der Studie. Das alles beantworten Suchmaschinen.“

2. Filtersouveränität

So stimmig diese Antwort auch ist, würde ich sie gerne filtersouverän radikalisieren. Es ist zwar eine Binse, dass wir Erinnerung betreiben, um sie in Zukunft abzurufen, aber anhand der Erkenntnisse eines Foucaults zum Möglichkeitsraum von Aussagen und der allgemein stattfindenden technischen Entwicklung bekommt dieser Umstand einen weitaus größeren Impact. Wenn wir nämlich wissen, dass es Fragen an Daten und Aussagen geben wird, von denen wir heute noch nichts ahnen – sei es, dass uns dazu die Diskurse oder eben andere Technologien fehlen – dann sind wir in einem „Jetzt“ niemals in der Position den Wert der aufgeschriebenen Daten einzuschätzen.

Die Filtersouveränität bezieht sich noch radikaler auf die Zukunft als die einfache Erinnerung und fühlt sich ihr verpflichtet. Durch das Aufschreiben, steckt die Archäologie der Zukunft ihre Claims im Heute ab.

3. Besseres Verständnis / Sozialität

Gestern ging zufälliger Weise ein Link zu einer anderen Umfrage der New York Times rum, die sich mit der Frage beschäftigt, warum man Inhalte teilt. Denn es ist schließlich so, dass das auslagern von Daten ins Internet in den seltensten Fällen ein autistischer Prozess ist, sondern viel öfter damit zu tun hat, dass wir Daten mit anderen teilen wollen.

Die Gründe sind nun hier aufgelistet. Wesentlich scheint die Erfahrung zu sein, dass durch das Teilen von Information und dem anschließenden Diskurs dazu, das Verständnis der geteilten Information steigt. Und natürlich ist das Teilen immer wieder ein Anlass, sich sozial auszutauschen.

Es heißt ja schließlich nicht umsonst Sozial Media. Einer der direkt erfahrbarsten Nutzen des Diskurses ist sicherlich immer noch das Sich-verorten im Diskurs selbst. Gesellschaftliche Teilhabe als Selbstzweck Kommunikation – so frei nach Luhmann.

4. Vergrößerung des Netzwerks

Aber diese Art der Kommunikation durch die Strukturen des Netz weist noch eine besondere Qualität auf, die nicht gleich auf der Hand liegt.

Der Psychologe Robin Dunbar konstatierte in den 90er Jahren, dass der strukturelle Aufbau der Menschlichen Neokortex auf eine Gruppengröße von 150 ausgelegt sei. 150 Menschen, die sogenannte „Dunbars Number“, sei die maximale Gruppengröße, mit der wir Menschen interagieren können. In Untersuchungen hatte sich das mehrfach bestätigt.

Das ist schade, denn zusätzliche Vernetzung birgt exponentielle Chancen. Der Mathematiker Robert Metcalfe hatte festgestellt, dass sich der Wert eines Netzwerkes proportional zum Quadrat der Knotenpunkte steigert – Metcalfes Law. Auch bekannt, als der sogenannte „Netzwerkeffekt“. Mit jedem neuen Kontakt steigt der Wert eines Netzwerkes exponentiell an.

Nun wird aber darüber gestritten, ob in sozialen Netzwerken Dunbars Number überhaupt noch ihre Gültigkeit hat. Wir sehen jedenfalls häufig, dass die Menschen dort mit mehr als 150 Leuten vernetzt sind. Vieles deutet darauf hin, dass computergestütztes Befreundetsein den Menschen befähigt, mit weit mehr anderen Menschen in kommunikativen Kontakt zu bleiben, als nur 150. Entsprechend erhöht sich auch der Wert des Netzwerks.

Diesen Zusammenhang habe ich bei Leander Wattig im Blog entdeckt, der eine Folie eines Vortrags von Karin Frick fotografierte. Der Blogpost war überschrieben mit: „Warum es rational ist, im Internet viele Daten über sich preiszugeben“. @texastee war so nett, für mich die Folie zu reengineeren:

Funktionieren tut das, weil die Menschen, mit denen ich mich auf Social Networks connecte, mir – und allen anderen Kontakten – von sich aus und ungefragt Informationen über sich bereitstellen. Das leicht monadenhafte vor sich hinbrabbeln ohne einen direkt benannten Empfänger bei Twitter und Facebook ist das, was diese Form der Kommunikation so effektiv macht. Die jeweiligen Interessenten pullen sich die Informationen in ihren Stream und können so auf dem Laufenden bleiben. Anstatt, dass ich also mit jedem Einzeln meine Wehwehchen und Erlebnisse besprechen muss, stell ich sie zum Abruf bereit. Die Query macht den Rest.

Gut. Aber was genau ist denn jetzt der „Wert“ des Netzwerkes? Also jenseits des eigenen Gefühls des Eingebundenseins in eine soziale Situation?

Mark Granovetter hatte gezeigt, dass es eben nicht in erster Linie die Menschen aus dem engsten sozialen Umfeld sind, die einem in verschiedenen Lebenssituationen weiterhelfen, sondern das erweiterte Netzwerk, die schwachen Verbindungen. Jobs, Freundschaften, neue Kontakte und andere Gelegenheiten werden meist hier generiert. Kombiniert mit Metcalfe, ergibt sich hier ein greifbarer Nutzen für das Leben. Ein Nutzen, den ich hier versucht habe aus persönlicher Sicht darzustellen: Warum ich faul bin und warum das die Zukunft ist. Es ist, die Tore zu öffnen um die Zukunft in Form der Serendipität hereinspazieren zu lassen.

All das führt natürlich in eine Gesellschaft, die viel enger verknüpft ist und in der tiefe und breite viel komplexer organsiert ist und sich dementsprechend heftig beginnt zu verändern. Ich bin überzeugt, höherer Vernetzungsgrad in der Gesellschaft wird diese besser machen. Besser im Sinne von freier und gleichzeitig informeller. Besser für das Individuum, weil es ihm instantan viel mehr Möglichkeiten bietet.

5. Entscheidungen auslagern: Optionsvielfalt

Bleiben wir bei den Möglichkeiten. In What Technology wants macht Kevin Kelly die recht einfache Gleichung auf, dass Freiheit Optionsvielfalt bedeutet. Entsprechend deutet er auch das mit Shampoosorten überladene Supermarktregal als Ausdruck der Freiheit. Sicher, wenn wir diesen Zustand mit dem in der DDR vergleichen, scheint die Richtung zu stimmen. Aber viele fühlen sich von der Optionsvielfalt überfordert oder lassen sie von vornherein links liegen, indem sie sich auf ein Shampoo festlegen. Es scheint fast so, als gäbe es für Shampoosorten ebenfalls eine Art Dunbars Number.

Wenn jetzt also ein Grenznutzen der Optionsvielfalt zu beobachten ist, ist es auch nach Kellys Formel nicht mehr möglich, die individuelle Freiheit zu erweitern. Aber vielleicht sind ja ähnliche Mechanismen möglich, wie in Social Networks. Bislang verwendete die Wirtschaft die Informationen über uns nur, um die Werbung für uns anzupassen. Aber was ist, wenn sie anfängt die Produkte anzupassen? Ich will mich im Supermarkt nicht damit beschäftigen, was für eine Haarsorte ich habe – trocken, fettig, glänzend, gelockt, spröde, etc. Ich will eigentlich überhaupt nicht in den Supermarkt gehen müssen. „Nehmt euch die Information über mein Haar und stellt mir was anständiges in die Dusche!

Wenn wir Informationen – vor allem über unsere Konsumwünsche – ins Netz stellen, könnten uns Unternehmen mit Produkten beliefern, die wir wollen, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen müssen. Ich bin kein Freund von Konsumentscheidungen und wäre froh, wenn Unternehmen die Rechtsgeschäfte mit einem eigens mich simulierenden Avatar abwickeln könnten, der alles über mich weiß – sogar wie ich entscheide. Soll die Query das erledigen!

Das wäre eine queryologische Zukunftsvision, die dem ein oder anderen vielleicht „creepy“ vorkommt, aber verdammt nützlich wäre. Die Befreiung vom Konsum und die gleichzeitige Erweiterung der Optionsvielfalt, durch Erweiterung von uns selbst in die Query. Ich glaube schon, dass das die Zukunft ist, egal, was Datenschützer sagen.

6. Die kulturelle Kaprizierung auf das Neue

Diesen Punkt habe ich bereits in der Diskussion auf Google Plus eingebracht. Ich übenehm das hier mal:

Jan Assmann hatte für das kulturelle Gedächtnis bereits gezeigt, dass im Zuge der Erfindung der Schrift eine gewisse Liberalisierung des Umgangs der Kultur vollzogen hat. So war die kulturelle Identität der Juden recht früh „portabel“, weil sie in Schrift fixiert war und nicht mehr an rituelle Gedenkorte, wie noch bei den Ägyptern.

Groys wiederum zeigt, wie sich der Kunstbegriff im Laufe der Jahrhunderte von einem Reproduktiven, eng gefassten hin zu einem auf das Neue ausgerichteten entwickelt. Seine These: je besser wir Informationen und Wissen zugänglich halten (Mächtigkeit und Accessibility von Archivtechnik), desto mehr kapriziert sich Kultur auf die Erschaffung von neuem und dem Fortschritt – auf Irritation des Bestehenden, sozusagen.

Ich als neophiler Mensch begrüße das sich zum Allarchiv wandelnde Internet und weine den dadurch obsolet werdenden Stützen der repititiven – das heißt sich auf Tradition berufenden – Kulturtechniken des Archivierens keine Träne nach. *

* Jan Assmann: das kulturelle Gedächtnis, Boris Groys: über das Neue.

Ich glaube übrigens, dass sich diese Entwicklung anhand der Internet-Meme ganz deutlich aufzeigen lässt. Das, was heute im Netz aufmerksamkeitsheischend aufpoppt, braucht diesen Moment der extremen Irritation, eine gewisse Whatthefuckebility.

Ich glaube, wir werden noch eine weitergehende Liberalisierung des Kuturbegriffs beobachten können. Vielleicht gibt es demnächst eine 4Chan-Oper?

7. Unsterblichkeit

Als letztes sei einmal auf den großartigen Text von Peter Glaser auf SpOn hingewiesen. Er bringt natürlich ein entscheidendes – vielleicht das entscheidenste – Argument für das Veröffentlichen und Teilen im Internet: den Tod, bzw. dessen Überwindung.

Im Grunde ist es auch das Argument, das untergründig alle Jahrhunderte die großen Werke durchwehte. Unsterblich ist der, der eine Hinterlassenschaft hat. In unserer heutigen Zeit muss diese Hinterlassenschaft unseren Geist repräsentieren, am besten reproduzieren. Die andauernde Auseinandersetzung mit den Toten nennt Derrida „Gespenster befragen„. Und ja, wenn, dann wollen wir wenigstens das sein, nach unserem Tod: ein Gespenst.

Aber blieb die Unsterblichkeit bislang nur den großen Geistern – den Philosophen, Schriftsteller, etc. vorbehalten, wird unsere Generation als Ganzes ein umfangreiches Archiv hinterlassen. Sogar ein noch viel umfangreicheres, als es je gegeben hat. Eines, das stetig wächst und das am Ende meines Lebens nicht weniger als die Komplettaufzeichnung meiner letzten X Jahre beinhalten wird, wenn ich es denn will. Und ich glaube schon, dass ich will.

Und wie schon die Erinnerung, lässt sich auch diese Aussicht noch queryologisch pimpen: Denn all die Datenmengen sind ja nicht nur sich selbst genug in einem Hier und Heute, sondern erweitern auch nach ihrer Aufzeichnung und sogar nach meinem Tod ihre Möglichkeiten. Ich habe auf diesen Zusammenhang schon damals bei der Blogwiedereröffnung hingewiesen.

Wenn wir alle also einen mehrere hundert Petabyte großen Datenhaufen hinterlassen, wird sich Erinnerungsarbeit verändern. Natürlich wird man ensprechende Software brauchen, um sich sinnvoll einen Weg durch meinen Identitätsdatenhaufen zu pflügen. Diese Software muss so intelligent sein, Zusammenhänge zu verknüpfen, Semantiken zu erkennen und Strukturen zu reproduzieren. Mit anderen Worten: sie muss mich zum teil simulieren! Aber wieso eigentlich nur zum Teil?

Ich glaube, dass – ein ensprechend großer Datenbestand vorausgesetzt – und die technische Entwicklung 30 Jahre in die Zukuft interpoliert, ein Computer mich zu 87% simulieren könnte. Vielleicht auch 88%. Und was wäre dann mein Leben, mein twittern, mein Social Networken und Lifestreaming anderes gewesen, als ein Mindupload?

Ja, ich glaube, dass wir nicht mehr sterben werden oder wenn, dann nur noch temporär. Wenn sich Datenverknüpfungs- und Analysemethoden weiterhin entwickeln, ist die Simulation von Persönlichkeit nur eine Frage der Zeit. Der Rest eine Frage der Daten.

Seine Daten nicht ins Internet zu stellen, wäre also gesundheitsschädlich. So wie Rauchen vermindert es die Lebenserwartung enorm. Ein langsamer Freitod, während wir anderen das Ende des Endes feiern.

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