Plattformprivacy

Es wird immer offenbarer, dass die Antwort der Gesellschaft auf den Kontrollverlust die zentral gesteuerten Plattformen sind. Auffällig wurde dies spätestens seit Apple der Musikindustrie mit iTunes den Allerwertesten rettete und es wurde am deutlichsten, als Google mit ContentID einen Weg für Verwerter anbot, wie sie die unkontrollierbaren User-Uploads für sich vergolden konnten. Aber auch bei der Privatsphäre hat sich ähnliches ereignet. Aller Unkenrufe zum Trotz hat Facebook die Privatsphäre einfach als Privacy-Setting neu erfunden und in den geschlossenen Welten von WhatsApp und Snapchat werden ebenfalls ganz neue Formen von Privatheit erprobt.

Die alte Vorstellung von Privatsphäre wird dabei natürlich ebenso über Bord geworfen („Informationelle Selbstbestimmung“, haha!), wie die alte Vertriebskanäle von Radio bis Plattenladen. Auf den Plattformen rüttelt sich etwas zurecht, das auf einer anderen Komplexitätsstufe dem Alten (Privatsphäre, Erlösmodelle) nah genug kommt, damit sich die Leute damit zufrieden geben.

Eine besonders aufschlussreiche Blüte dieser Kontroll-Transition hin zu den Plattformen treibt derzeit im Journalismus. Facebook hat den Verlagen ein Angebot gemacht und viele springen auf. Sie sollen ihre Artikel im Volltext bei Facebook zum syndizieren abliefern und können dann an der Werbung mitverdienen und bekommen detaillierte Daten über ihre Leser.

Auf ein solches Angebot einzugehen könnte direkt aus den Strategien entlehnt sein, die ich in meinem Buch vorstelle. Die Kontrolle über die Inhalte auszuüben ist eh viel zu aufwändig und in letzter Konsequenz quasi unmöglich, also lieber auf antifragile Strategien setzen und den Content möglichst breit streuen und daraus den Nutzen ziehen.

Ich hätte allerdings argumentiert, dass das doch schon längst per RSS machbar ist und von den Verlagen nur schon seit langer Zeit boykottiert wird (zumindest Fullfeeds). Und hier ist der Punkt: Wir waren doch schon mal viel weiter. Mit RSS und co. hatten wir einen Standard, der es erlaubte Artikelinhalte in einem generischen Format in alle möglichen Veröffentlichungssitationen zu integrieren. Ich schreibe in Vergangenheitsform. Natürlich gibt es RSS noch, aber es hat sich nicht breit durchgesetzt und Facebook und andere Plattformen treten nun mit ihren eigenen Tools an diese Stelle.

Statt dass Inhalte frei und für jeden syndizierbar und weiterverwertbar angeboten werden, werden sie lieber den proprietären (und undurchschaubaren) Anzeigetechnologien der geschlossenen Datensilos in den Rachen geworfen.

Und hier drängt sich ein Vergleich mit der Post-Privacy auf: RSS entspricht so ziemlich dem, was Christian Heller (und in Folge auch ich und einige andere) sich als Post-Privacy vorgestellt haben. Gibt die Daten frei, dann können alle partizipieren. Datenmonopole zu beseitigen wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer egalitäreren Machtverteilung in der Gesellschaft. Bekommen haben wir aber stattdessen Plattformprivacy.

Plattformprivacy ist nach oben offen (Facebook, Staat, Geheimdienste) und zu den Seiten geschlossen (Privacysettings). Das reicht den meisten Menschen, denn im Gegensatz zur Datenschützer-Szene war für sie Privacy nie ein Selbstzweck, sondern immer Tool zur alltäglichen Lebensführung. Deswegen war die Privatsphäre gegenüber der eigenen Mutter schon immer wesentlich wichtiger, als die gegenüber der NSA. Plattformprivacy ist die Zukunft der Privatsphäre und gleichzeitig eine Datenmonopolisierung weit größeren Ausmaßes, als wir es uns haben vorstellen können.

Das kann man enttäuschend finden und zwar auf allen Seiten: der Datenschützer/innen-Seite genauso wie auf der Post-Privacy-Seite. Aber es ist nun mal die Realität. Zumindest vorerst.

Das ist auch das Fazit meines Buches: Wir sind noch nicht so weit. Unser Wunsch nach Kontrolle verhindert eine freie Gesellschaft und einen emanzipativen Umgang mit den digitalen Technologien. Stattdessen haben wir uns neue Regime geschaffen, die uns vermutlich noch eine ganze weile voreinander „beschützen“ werden.

Ich kann bei all den aufkommenden strukturellen Problemen der Netzgesellschaft kaum etwas dagegen sagen. Kontrolle wird gebraucht. Doch wo Kontrolle herrscht, braucht es Politik. Und das ist jetzt unsere Aufgabe: Plattformpolitik.

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10 Kommentare zu Plattformprivacy

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