Flattr und die Ökonomie des Kontrollverlusts

Flattr ist ein neuer Dienst aus Schweden, der gerade in Deutschland für enormen Wirbel sorgt. Und obwohl für Netzökonomie im allgemeinen eher Holger Schmidt zuständig ist, fühle ich mich berufen, einmal einen genaueren Blick darauf zu wagen, wie dieses Startup mit einem neuen Konzept – und vielleicht einem neuen ökonomischen Verständnis – sich anschickt, die Blogsophäre auf monetäre Füße zu stellen. Denn eines ist sicher: Hinter Flattr steckt mehr als nur eine pfiffige Idee, sondern ein ganz anderes Verständnis davon, wie eine Ökonomie in Zeiten Kontrollverlusts funktionieren könnte. (Was sicher nicht unwesentlich daran liegt, dass es quasi eine Ausgründung aus „The Piratebay“ ist.)

Flattr ist eine Art Bezahldienst für Webinhalte. Als Publizist, Blogger, Podcaster, Künstler oder Musiker mit Website kann man einen kleinen Button intergrieren, der es anderen Flattrusern erlaubt, für einen Inhalt zu „voten“. Aber im Gegensatz zum „Like“-Button von Facebook ist der Vote mehr als nur eine nette Geste. Jeder Flattrnutzer hat zunächst seinen Account mit echtem Geld aufgeladen und verteilt es durch die Votes nun unter den Webinhalten. Als Nutzer kann man vorher festlegen, wie viel Geld man bereit ist, überhaupt für seinen Blog- etc. Konsum auszugeben. Man kann das auch Pro Momat angeben, so dass jeder einen schönen stetigen Geldfluss in die Blogosphäre leiten kann, dessen Kosten man aber immer unter Kontrolle hat. Am Ende des Monats wird der einzahlte Betrag dann auf die geflattrten Inhalte gleichmäßig verteilt.

Die Idee ist genial und breitet sich derzeit vor allem in der deutschen Blogwelt aus, wie ein extrem aggressives Virus. Und dennoch sind die Hoffnungen meist bescheiden, denn natürlich läuft der Dienst Gefahr, über die engeren Kreise der Blogosphäre nicht hinaus zu kommen. Wer, außer jemand der selbst daran verdient, also Teil des Publizistennetzwerkes ist, sollte sich schon einen Account machen? Und was bliebe schon übrig, wenn unter den wenigen Tausend leser nur ein Bruchteil Flattr hat und deren kümmerliche Centbeträge auf dem heißen Serverkostenstein verdampfen?

Ich würde aber gerne die Frage nach der derzeitigen und zukünftigen Relevanz von Flattr vorerst verschieben und mich lieber darauf konzentrieren, zu erklären, was an Flattr so besonders ist. Denn natürlich hat es schon einige Micropaymentversuche gegeben und auch die Spendenidee ist nicht neu, jedoch hat sich nichts davon jemals druchgesetzt. Warum sollte das bei Flattr schon anders sein?

Flattr ist anders! Und es ist genau dem Sinne anders, wie Blogs anders sind.

Vor einigen Wochen habe ich über die Gratifikationsstruktur des Bloggen geschrieben und dabei festgestellt, dass Blogs sich selten, fast gar nicht in klassischen monetär-ökonomischen Gefilden bewegen. Sie agieren stattdessen eher noch in der „Ökonomie der Aufmerksamkeit„. Und weil sie sich als Nachfrager in diesem „Zweiten Markt“ – wie ich ihn genannt habe – bewegen, kanibalisieren sie ihre Position als Anbieter auf dem ersten Markt – also dem der klassischen Ökonomie.

Dieser zweite Markt – der der Aufmerksamkeit – funktioniert aber auch anders. Das Angebot an Information existiert relativ unabhängig von der Nachfrage. Es gibt also auch keine Preisfindungsstrategie, sondern die Blogger bloggen eben so vor sich hin, wie es ihnen gefällt. Wenn Artikel Leser finden, ist das super, wenn nicht, ist das auch nicht so schlimm. Selbst wenn das Blog keinen einzigen Leser findet, ist das meist kein Grund für den Betreiber das Bloggen einzustellen.

Blogtexte sind (in der Regel) Geschenke. Man setzt sich hin, schreibt und veröffentlicht ohne die Intention, irgendetwas dafür zurück zu bekommen. Antje Schrupp hat das auf ihre unnachahmlich persönliche Art erzählt, wie das Bloggen für sie funktioniert und ich kann mich ihrer Erfahrung nur anschließen. Für sie funktioniert Bloggen über eine Form des „Begehrens“ nach dem Ausdruck für ein Thema. Dieser Ausdruck, würde ich hinzufügen, ist ein Begehren des Schenkens, des Teilens der Information mit der Welt.

Ganz unabhängig von der Diskussion über die Zukunft des Journalismus kann man feststellen, dass sich bestimmte „etablierte“ Arten des Geldeinnehmens für Blogger ganz absurd anfühlen. Zum Beispiel die Art, eine klassische Paywall um die Angebote zu machen und nur bezahlende Menschen durchlassen. Oder ein Leistungsschutzrecht, oder DRM, etc. Ich bin es doch, der das Bedürfnis hat, meine Gedanken zu schenken. Deswegen müssen sie so frei wie möglich sein.

In Marcel Mauss‚ (1872-1950) berühmten Buch „Sur le don“ (zu Deutsch: Die Gabe) erzählt der Anthropologe von seiner Beobachtung an vielen indigenen Völkern, dass sie ihren „Gütertausch“ auf eine bestimmte Art und Weise organisieren. Güter zirkulieren in diesen Gesellschaften rein in der Form des Geschenks.

Ein Geschenk ist ein eigentümliches Ding. Marcel Mauss und in seiner Folge Claude Levi-Strauss gingen davon aus, dass die Geschenkökonomie ein versteckter Tausch ist. Ich schenke Dir heute dies oder jenes, du schenkst mir morgen irgendwas zurück. Eigentlich gibt es keine Übereinkunft, kein Vertrag, sondern nur eine Art „Dankbarkeit„, eine Verpflichtung, die Gabe irgendwann zu erwidern. Wichtig dabei ist, es nicht so aussehen zu lassen, als sei das Retour-Geschenk ein ebensolches. Wer auf ein Geschenk unmittelbar mit einem Gegengeschenk antwortet, beleidigt den Schenkenden. Es hieße, sich auf das Geschenk nicht einzulassen, sondern sich in einen Tausch zu flüchten.

Flüchten wovor? Das Geschenk, so analysiert Mauss, lastet wie eine Bürde auf dem Beschenkten. Eine Art Hypothek, ein Ausgeliefertsein gegenüber dem Schenkenden. Die Gabe ist vergiftet (das englische „Gift“). Der Beschenkte hat keine Wahl, als dem Schenkenden wiederum ein Geschenk zu machen, um sich aus dieser Situation zu befreien. Und sobald er es versucht, steht er vor einem Paradox.

Derrida war es, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass es unmöglich ist, ein Geschenk zu erwidern. Denn in der Erwiderung deklassiert man sofort das erste Geschenk als bloßen Tausch. Ein Geschenk muss aber aus freien Stücken, vollkommen ohne Schuld und ohne die Anerkennung von Schuld passieren. Ein Geschenk ist immer Frei: Freiwillig und Freizügig.

Der größte Feind des Geschenks ist also dessen Erwiderung. Die Gabe darf sich nicht in einer Gegengabe neutralisieren. Die Freiheit und Freizügigkeit des Geschenks ist jederzeit gefährdet durch dessen Rückerstattung. Die Geschenktheit des Geschenks hängt von dessen Einzigartigkeit und Freiheit ab.

Die Ökonomie des Geschenks lässt sich wiederum auf die Blogwelt übertragen. Hier werden Geschenke asynchron gemacht und so die Einzigartigkeit des Geschenks gewahrt. Der Text, den ich online stelle wird nicht (oder nur selten) mit einem Blogtext beantwortet. Die Verpflichtung und die Bürde der Gabe lastet auf mir nicht gegenüber einem einzelnen Blogger, sondern gegenüber jedem. Es geht nicht um das zurückerstatten an jemanden, sondern um gegenseitige Verpflichtung weiter zu schenken. Mit einem neuen Blogtext befreie ich mich ein wenig von dieser Bürde, die mir alle anderen Texte aufgegeben haben. Nicht gegenüber jemanden, sondern ganz allgemein. Jedoch gab es bisher keine Möglichkeit für Nichtblogger sich zu entschulden.

Flattr berücksichtigt sowohl die Asynchronität der Gabe und die Unmöglichkeit ihrer Rückerstattung, als auch die Freiwilligkeit und Freizügigkeit des Schenkens. Flattrn ist anonym, der Geflattrte weiß nicht, von wem er beschenkt wird, was das Flattern widerum zum echten Geschenk macht. Es versucht eben keinen „Preis“ für den Artikel zu „bestimmen“ oder irgendwie ausfindig zu machen. Flattrn ist kein Zurückgeben, aber auch keine Spende. Es ist wie Bloggen ein freies Schenken. Es bietet eine Gabeninfrastruktur die einer Spiegelung der Gabeninfrastruktur von Blogs nahe kommt.

Flattr gibt den Lesern von Blogs ein einfach zu bedienendes, schnell einsetzbares Tool in die Hand, mit der sie das Geschenk eines Blogartikels erwidern können, ohne das Geschenk als Geschenk zu neutralisieren. Damit erkennt es die Emanzipation des Lesers, wie den Kontrollverlust des Senders vollkommen an. Flattr ist das vielleicht erste Beispiel eines Startups, das die neuen Bedingungen des Publizierens verstanden und sie mit der monetären Sphäre so verbunden hat.

Wenn sich – wie schon Marcel Mauss vermutet – tatsächlich die Ökonomie des Geschenks nicht restlos anthropologisch überholt hat, sondern noch weiterhin spürbar als Drang oder Begehren in uns schlummert, dann wird – aller Skepsis zum Trotz – Flattr ein Erfolg werden. Dann werden nicht nur Blogger, sondern auch regelmäßige Blogleser schenken wollen, um sich ihrer Schuld zu entledigen. Ich finde dieses Szenario nicht ganz unrealistisch und bin sehr gespannt, wie sich der Dienst entwickeln wird. Außerdem frage ich mich, was Marcel Mauss wohl dazu gesagt hätte.

(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)

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