Die Tausend Tode des Autors

Man kann den Titel dieses Blogs – „CTRL-Verlust“ – mittlerweile durchaus kritisch sehen. Denn was ich hier präsentiere sind mitnichten nur Kontrollverluste. Es gibt auch Kontrollzugewinne. Der Kontrollverlust scheint also mehr eine Kontrollverlagerung zu sein. Es scheint beinahe so zu sein, als sei das Maß an Kontrolle das selbe geblieben, nur ist sie heute anders verteilt. Es fand und findet eine Umverteilung statt und zwar in einem Maße und einer Gründlichkeit, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat.

Tedd Codd war so ein Umverteiler. Seine Meinung über Datenbanken war eindeutig: in einem Prozess, in dem ein Mensch eine gespeicherte Information sucht, soll er sie gefälligst autark aufrufen können. Ganz ohne Systemadministrator, Programmierer oder gar demjenigen, der diese Information gespeichert hatte. Charles Codd ist der geistige Vater der relationalen Datenbank.

Wenn jemand eine Information aufschreibt, muss er sie irgendwo hin tun, sie speichern. Wenn jemand anderes oder gar er selbst sie wieder finden möchte, muss er an dem Platz nach schauen, an dem der Autor oder der Archivar – oder eine sonstige Instanz der Kontrolle – sie hin getan hat. Diese Alltäglichkeit war bis in die 70er Jahre nicht nur die Realität der Schubladen, Aktenordner und Regale, sondern auch das Prinzip der Datenbanken. Datenbanken hatten Verzeichnisse, Unterverzeichnisse, Verknüpfungen, Verweise, Verknüpfungen auf Verweise und davon wieder Unterverzeichnisse. Wer in diesen Datenbanken etwas suchte, musste nicht nur kryptische Befehlsfolgen kennen, sondern auch ihren gesamten semantisch-, hierarchischen Aufbau kennen.
Tedd Codd wollte diesen Missstand beseitigen. Zusammen mit anderen und in zeitweiliger Konkurrenz zu Charles W. Backmann entwickelte er die relationale Datenbank. Sie gibt dem Benutzer der Datenbank eine einfache und zugleich sehr mächtige Abfragesprache zur Hand: SQL (Structured Query Language). Man kann in ihr beinahe einfache englische Sätze formulieren, die dann von der Datenbank gelesen und ausgeführt werden.
„SELECT Gehalt FROM Mitarbeiter;“ zum Beispiel gibt alle Gehälter aus der Tabelle „Mitarbeiter“ aus.

Die zweite, noch viel wichtigere, Verbesserung ist, dass man in dieser Abfrage beliebige Felder verschiedener Tabellen miteinander verknüpfen kann. „SELECT Mitarbeiter.Gehalt FROM Mitarbeiter LEFT JOIN Abteilungen WHERE Mitarbeiter.id = Abteilungen.Leiter AND Abteilung.MitarbeiterAnzahl > 5;“ Hier wird nur das Gehalt derjenigen Mitarbeiter ausgeben, die Abteilungsleiter einer Abteilung sind, die mehr als 5 Angestellte hat.

Es ist dabei ganz egal, was sich der Programmierer oder Manager gedacht hat, wie man die Datenbank benutzt und für welche Fragen sie gedacht ist. Denn was für Dinge sie ausspuckt, hängt einzig und allein von der Abfrage ab. Und der Benutzer der Datenbank ist völlig frei, die absurdesten Abfragen an sie zu stellen. Wie hoch ist der Stromverbrauch der Etage, welche die meisten weiblichen Mitarbeiter mit über 6000 Euro Gehalt beherbergt, die einen grünen Firmenwagen haben und weniger als 80 Mails pro Monat schreiben? Kein Problem, sofern die Datensätze vorliegen.

Was Codd also tat, war, dass er die die Kontrolle der Daten – ihre Ordnung und all ihre Möglichkeiten – aus den Händen derer nahm, die die Daten strukturieren und einstellen und sie jenen gab, die die Daten abfragen. Es gibt keine Ordnung, bevor eine Abfrage sienicht ordnet.

Die relationale Datenbank ist ein Paradigmenwechsel in der Art, wie wir mit Informationen und Ordnung umgehen. Sie ist die Blaupause einer Revolution, die die viele Tausend Jahre alte Geschichte der Ordnung in Frage stellt, indem sie die Ordnung in die (SQL-)Frage stellt!

Das Ergebnis ist das, was der Philosoph David Weinberger in seinem Buch: „Das Ende der Schublade“ die „dritte Ordnung der Ordung“ nennt. Die erste Ordnung der Ordnung ist die Ordnung der Dinge im Raum, ihre einfache Anordnung. Egal nach welchen Kriterien wir sie sortieren, nach Größe, Farbe oder alphabetisch, wir verbleiben in der ersten Ordnung der Ordnung. Die zweite Ordnung der Ordnung ist die Ordnung der Repräsentation der Dinge. Ihre Metadaten, aufgeschrieben in Katalogen oder auf Karteikarten, die wir wiederum in eine ganz andere Ordnung zu einander bringen können. In beiden Ordnungen der Ordnung hat alles einen festen Platz. Es gibt Hierarchien, Nachbarschaften und Metakonzepte, die sich verzweigen und wieder verzweigen und an denen die Informationen oder Dinge wie Blätter an Ästen eines Baumes hängen.

„Bei der dritten Ordnung der Ordnung kann ein Blatt an vielen Ästen hängen; es kann für verschiedene Leute an verschiedenen Ästen hängen; und es kann für ein und die selbe Person den Ast wechseln, wenn sie sich entschließt, die Sache anders zu betrachten. […] Bei der dritten Ordnung der Ordnung hat das Wissen schlicht keine feste Form. Es gibt einfach zu viele nützliche, überzeugende und schöne Möglichkeiten, unsere Welt zu sehen. „

Die dritte Ordnung der Ordnung ist also keine allgemeingültige: Sie ist die Ordnung des Fragers, seine je individuelle Sicht auf die Welt. Und wir sind erst am Anfang, die Tools für diese ordnende Kraft des Lesers zu entwickeln. Ihre Vorläufer aber graben schon jetzt die Welt der Informationen um:

Tillmann Allmer, der diesen Paradigmenwechsel ebenfalls beschreibt, sprach in diesem Zusammenhang den Hypertext – also das WWW – an. Auch der Hypertext gibt dem Leser mehr Kontrolle über den Informationsstrom. Jede Website ist nur einen Mausklick entfernt und so kann sich der Leser so tief in ein Thema hinein klicken, wie er es braucht. Die Macht, mit der Google Konzepte wie die hierarchischen Informationstürme – wie der von Yahoo! – vom Markt sprengte, ist ebenfalls getragen von der 3. Ordnung der Ordnung. Zwar spielen dort die intelligente Gewichtung von Ergebnissen im Hintergrund eine Rolle, aber erst die Tatsache wer, wann und wo welche Suchphrase in den Schlitz eingibt, definiert das Ergebnis.

Eine weitere Implementation ist das bereits hier angesprochene Abonnementmodell bei Twitter und Blogs und ihre begleitende Software, wie der RSS- Reader, der die von mir abonnierten Nachrichtenströme „aggregiert“ und mich so zu dem Autor meines eigenen Inputs macht.

(An dieser Stelle ein kurzer Einwurf zu dem aktuellen Text von David Gelernter in der FAS: Er kritisiert genau diese Selbst-Zusammenstellung des eigenen Informationsstroms und behauptet, dass dieser Stream nur die eigenen Vorurteile bediene: „Das Netz gewährt uns die Befriedigung, nur Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, mit denen wir bereits konform gehen, nur Fakten (oder angebliche Fakten), die wir schon kennen.“ Ich kann hier natürlich nicht für Herrn Gelernter sprechen und weiß auch nicht, wie er sich seinen Informationsstream zusammenstellt, das sei ihm überlassen. Es scheint mir aber offensichtlich, dass er das nicht besonders gut hin bekommt. Würde ich nur die Informationsquellen abnonnieren, die mir nur die Fakten betätigen, die ich bereits kenne, wäre mir jedenfalls schnell langweilig. Auch frage ich mich, was Gelernter so googelt. Ich für meinen Teil meist nur Dinge, die ich noch nicht oder noch nicht genug kenne. Das mag aber bei anderen anders sein.)

Es gibt einen neuen Markt. Es ist der Markt der Aufmerksamkeit. Aber Vorsicht: Aufmerksamkeit ist nicht das Produkt, sondern das Zahlungsmittel. Ende 90er Jahre hat Georg Franck diese Ökonomie der Aufmerksamkeit sehr gut beschrieben. Wer hier seine Produkte (Informationen) feilbietet, darf froh sein, wenn er Aufmerksamkeit – und nur diese – findet. Diese Ökonomie der Aufmerksamkeit scheint derzeit allzu real zu werden und sie hat ein mehr als schwieriges Verhältnis zur klassischen Ökonomie. Denn der Leser lässt sich keine Filter mehr vorschreiben. Er lässt sich auch nicht mehr vorschreiben, wie und wann er Informationen aufnimmt. Er hat jetzt die Macht über seine kostbare Aufmerksamkeit und wird deswegen jede Werbung wegfiltern, er wird jedes Bezahlmodell unterlaufen, dass sich ihm in den Weg stellt und er wird jeden Text aus seinem Kontext reißen und ihn einbetten in seinen eigenen Kontext – und eines wird ihm dabei völlig egal sein: die Marke.

Nur deswegen kann Kristian Köhntopp ein Grundrecht auf unvermittelte Konnektivität fordern. Besser: auf selbstvermittelte und selbstgefilterte Konnektivität. Das heißt nämlich nichts anderes als Filterlosigkeit und Mittlerlosigkeit auf der Seite der Sender und Vermittler – und ja, damit eben ein Recht auf Netneutrality! Netneutrality brauchen wir, um die eben erlangte Macht des Lesers und das funktionieren der dritten Ordnung der Ordnung voll zu gewährleisten.

Die bange Frage der Verleger, ob und wie sie denn in diesem Umbruch noch ihre Publikationen finanzieren können, wird die Zukunft nicht nur nicht positiv (oder negativ) bescheiden. Nein, diese Frage stellt sich überhaupt nicht! Die Frage der Zukunft ist keine Frage des Senders oder des Vermittlers, sondern eine des Empfängers. Die Frage ist: Welche Algorithmen, welche Verknüpfungen und welche Filter tragen dazu bei, meinen Informationsstrom noch genauer auf meine Bedürfnisse anzupassen? Wie kann ich das Rauschen (Ja, dazu gehört im Zweifelsfall auch jede Form von Werbung) minimieren und meinen Input so gestalten, dass ich maximal davon profitiere? Der Kontrollverlust ist absolut und noch gar nicht voll begriffen worden. Wer jetzt Verlegern gute Tipps gibt, wie sie auch in Zukunft noch Geld verdienen werden, sollte sehr vorsichtig auftreten. In dem Kontinuum der dritten Ordnung der Ordnung ist kein Platz für einen Bezahlschlitz und mit zunehmenden Kanälen (ja, auch jeder Freund, der auf Facebook über seine Bauchschmerzen spricht, ist ein Kanal), wird das Zahlungsmittel Aufmerksamkeit immer rarer und kostbarer. Der Markt hat für Informationen jetzt schon einen Preis festgesetzt: 0 Euro! Wer hier von digitalem Maoismus spricht oder über „verirrte Web-Kommunisten“ poltert, hat die Marktwirtschaft nicht begriffen: In ihrer digitalen Form ist sie ein postmaterialistisches Paradies des anstrengungslosen Informationswohlstands.

(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)

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