Vortrag: Vergesst die Zukunft, der Zukunft zu liebe!

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Am 17. und 18. November fand ein Innovationsworkshop der Deutsche Digitalen Bibliothek statt. Das ist großes Projekt einer allgemeinen Dateninfrastruktur zur Zugänglichmachung aller möglichen Digitalisate – Bücher, Kunstwerke aller Art, archäologische Funde, etc. über das Internet. Außer mir waren fast nur Experten aus allen möglichen Sparten zugegen und es war wahnsinnig spannend so einen tiefen Einblick in das Projekt zu gewinnen.

Ich selbst war eingeladen, um über die Queryology zu sprechen. Ich habe den Auftrag einfach mal so interpretiert, meine Ideologie des Zugänglichmachens – auch bekannt als Filtersouveränität – in den Kontext des Bibliothekswesens zu stellen.
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Vergesst die Zukunft, der Zukunft zu liebe!
Die notwendige Gastfreundschaft des Archivs für die Möglichkeiten von morgen.

Vielen Dank für die Einladung, vielen Dank auch für die einleitenden Worte. Ich bin ein eigentlich fachfremder Theoretiker, beschägtigte mich aber schon länger mit der Entwicklung von Wissenordnungen – vor allem in Zeiten des Internets. Ich möchte versuchen, ihr Vorhaben – die Deutsche Digitale Bibliothek – historisch einzuordnen und dabei die Richtung aufzeigen, in die ich glaube, dass die Aufgabe des Bibliothekars sich entwickeln könnte.

Das Vorhaben der Deutschen Digitalen Bibliothek hat natürlich historische Vorbilder. Schon lange wird versucht, den einen Katalog des gesammelten Wissens anzulegen. In Deutschland scheiterte kein geringerer als Johann Wolfgang von Goethe daran, einen Gesamtkatalog der Weimarer und den Jenaer Bibliotheken zusammenzustellen. Einige Jahrzehnte später wurde das Projekt wieder aufgenommen. Diesmal sollte daraus der Gesamtkatalog aller preussischen Bibliotheken werden – der Königlichen Bibliothek und den 10 preußischen Regionalbibliotheken.

1888 offiziell gestartet, entwickelte sich das Projekt zu einer vielköpfigen Hydra. Der schiere Wust an heterogener Literatur, sowie die Verschiedenheiten der Ordnungs- und Notationssysteme ließen auch dieses Unternehmen scheitern. Der erste Band des Katalogs sollte erst 1931 erscheinen. 1979 kam der letzte Band heraus – er reicht bis „Belych„.

Mitten in diesem Chaos, um 1905 ging ein Erlass von Friedrich Althoff – einer der Verantwortlichen – an alle beteiligten Bibliotheken heraus. Um den enormen Massen an Beständen Herr zu werden – war man bereit zu drastischen Mitteln zu greifen: Die Bestände sollten gelichtet werden. Auszusortieren seien: ältere Dissertationen, Programme, Lehrbücher, populäre Literatur ohne wissenschaftlichen Wert, Natur und Reisebeschreibungen, etc. Die Bibliotheken taten wie es ihnen befohlen war, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nahm. Es gab aber auch kritische Stimmen. Zum Beispiel aus der Bibliothek in Kiel:

Der individuelle Wert jedes Buches pflegt nach dem Gewicht der geistigen Leistung bemessen zu werden, die ihm zugrunde liegt, und da unter diesem Gesichtspunkte die Skala nach oben wie nach unten unbegrenzt ist, so kann die Abschätzung allerdings oft genug bis zum Prädikat völliger Wertlosigkeit herabsinken. Anders ist es, wenn man erwägt, daß ein jedes Buch – im weitesten Sinne des Wortes – auch als historisches Dokument betrachtet werden kann und, sobald es dem Bestande einer Bibliothek angehört, auch betrachtet werden muß. Als solches besitzt es zumindest einen relativen Wert, der sinken, steigen, latent bleiben und anscheinend sogar völlig verschwinden kann, der aber alsbald hervortritt, sobald man es unter einem bestimmten Gesichtspunkt […] ansieht […]. Schon unter diesem Aspekt kann das an sich Unbedeutendste und Wertloseste Wert und Bedeutung gewinnen […] Demzufolge wird es geradezu als Pflicht jeder öffentlichen Bibliothek zu betrachten sein, ihren gesamten Bücherbestand […] ungeschmälert zu erhalten.

Es wären hier viele Stellen hervorzuheben. Das Historischwerden selbst der werlosesten Dokumente beispielsweise. Doch, auch die Historisierung ist nur eine von den im Text adressierten „bestimmten Gesichtspunkten“ unter dem sich der Bestand „ansehen“ lässt. Die Frage – eigentlich die Hilflosigkeit – spricht aus diesen „bestimmten Gesichtspunkten„: Welche bestimmten Gesichtspunkte unter denen man die Bestände ansehen kann, sind noch denkbar? Sind sie überhaupt denkbar? Alle? Wie könnte man sich anmaßen, sie alle zu kennen?

Als Bibliothekar hat man also die unmögliche Aufgabe, in die Zukunft zu sehen. Man muss mit den Augen eines Anderen auf den eigenen Bestand schauen und zwar auch mit den Augen des ganz Anderen, des nicht vorstellbaren Anderen, des zukünftigen Anderen.

Man kann also nur scheitern. Und wie beim sympathischen Bibliothekar aus Kiel ist das Einräumen dieses Scheiterns vielleicht der erste Schritt, zumindest der philosophischste, im Umgang mit dem Archiv.

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In der Frühzeit der Computergeschichte waren Datenbanken nicht viel anders strukturiert als Bibliotheken. Man schuf Kategorien und Unterkategorien, man gab den einzelnen Daten sprechende Signaturen und versuchte sie in eine möglichst semantische, logisch kohärente Reihenfolge zu bringen. Wer in diesen Datenbanken etwas suchte, musste nicht nur kryptische Befehlsfolgen, sondern auch ihren gesamten semantisch-, hierarchischen Aufbau kennen. Es blieb meist nicht viel anderes übrig, als sich von Verzeichnis zu Unterverzeichnis zu Unterunterverzeichnis zu hangeln, allerdings nicht selbst. Die Daten wurden meist direkt vom Spezialisten besorgt.

Ted Codd und der Kieler Bibliothekar hätten sich gut verstanden. Auch Codd sah die Aussichtslosigkeit des Unterfangens die Anforderungen an eine Wissensordnung schon beim Speichern zu vorherzusagen. Er suchte also einen Weg, den Prozess des Abrufens von Daten, von dem des Speicherns zu trennen. Die Intention beim Speichern sollte nicht mehr sein, eine Ordnung zu ersinnen, die für den Abrufenden nachvollziehbar ist, sondern nur eine Infrastruktur bereitzustellen, in der der Abfragende möglichst frei und direkt seine Abfragen formulieren kann.

Zusammen mit anderen und in zeitweiliger Konkurrenz zu Charles W. Bachmann entwickelte er in den 70er Jahren die erste relationale Datenbank „Systems R„. Sie gibt dem Benutzer der Datenbank eine einfache und zugleich sehr mächtige Abfragesprache zur Hand: SQL (Structured Query Language) (damals noch SEQUEL (= Structured English Query Language)). Man kann in ihr beinahe einfache englische Sätze formulieren, die dann von der Datenbank gelesen und ausgeführt werden.
“SELECT Gehalt FROM Mitarbeiter;” zum Beispiel gibt alle Gehälter aus der Tabelle “Mitarbeiter” aus.

Die zweite, noch viel wichtigere Verbesserung ist, dass man in dieser Abfrage beliebige Felder verschiedener Tabellen miteinander verknüpfen kann. “SELECT Mitarbeiter.Gehalt FROM Mitarbeiter LEFT JOIN Abteilungen WHERE Mitarbeiter.id = Abteilungen.Leiter AND Abteilung.MitarbeiterAnzahl > 5;” Hier wird nur das Gehalt derjenigen Mitarbeiter ausgeben, die Abteilungsleiter einer Abteilung sind, die mehr als 5 Angestellte hat.

Es ist dabei ganz egal, wie der Programmierer geplant hat, wie man die Datenbank benutzt und für welche Fragen sie gedacht ist. Denn was für Dinge sie ausspuckt, hängt einzig und allein von der Abfrage ab. Und der Benutzer der Datenbank ist frei, die absurdesten Abfragen an sie zu stellen. Wie hoch ist der Stromverbrauch der Etage, welche die meisten weiblichen Mitarbeiter mit über 6000 Euro Gehalt beherbergt, die einen grünen Firmenwagen haben und weniger als 80 Mails pro Monat schreiben? Kein Problem, sofern die Datensätze vorliegen.

Was Codd also tat, war, dass er die die Kontrolle der Daten – ihre Ordnung und all ihre Möglichkeiten – aus den Händen derer nahm, die die Daten strukturieren und einstellen und sie jenen gab, die die Daten abfragen. Es gibt keine Ordnung, bevor eine Abfrage sie nicht ordnet.

Seit der relationalen Datenbank, kann man nicht mehr davon sprechen, dass Daten für eine bestimmte Abfrage in der Zukunft gespeichert werden. Sie werden auch für die ganz andere Abfrage gespeichert, an die heute noch niemand denkt.

Die Entwicklung blieb nicht bei der relationalen Datenbank stehen. Die Emanzipation der Abfrage gegenüber dem Ordnungssystem seiner Speicherung schreitet seitdem voran. Heute verfügen wir über sehr mächtige Abfragesysteme, die es immer wieder schaffen, Beschränkungen zu überwinden, Informationen zusammenfassen oder grafisch aufbereiten, simultan zu übersetzen, zu filtern, zu korrelieren und Ergebnisse in beliebige Ordnungen zu setzen. Wir haben Feadreader, Suchmaschinen, Timelines, Notifications, Korrellationsanaylen, Adblocker und Big Data.

Seit der Erfindung des Computers ist die Macht der Abfrage eng an Moores Law geknüpft. Mit jeder neuen Prozessorgeneration wird die Abfrage mächtiger und emanzipiert sich weiterhin entsprechend schnell und stark von den vorhandenen Ordnungsstrukturen, das heißt: von den Aufschreibesystemen.

Der kürzlich verstorbene Medientheoretiker Friedrich Kittler hat die Medien treffend als „Aufschreibesysteme“ bezeichnet und analysiert. Das war auch sicher die längste Zeit ausreichend und richtig. Die Theorie der Aufschreibesysteme muss aber heute um eine Theorie der Abfragesysteme ergänzt werden.

Wir leben in einer Welt, in der die Abfragesysteme durch Echtzeitstreams, Google- und Volltextsuchen längst die Brennweite des menschlichen Wissens geworden sind. Was bleibt also zu tun, wenn man auf der anderen Seite, der Seite des Archivs und des Aufschreibens, des Ordnens und Selektierens steht? Wie kann man die Herausforderungen der Abfrage des ganz Anderen adressieren?

Die Maßgabe unserer Zeit und die Aufgabe des Bibliothekars kann nicht mehr das Selektieren von Inhalten und die Bewerkstelligung einer Wissensordnung sein. Es kann nicht der Versuch sein, zu vorherzusehen, mit welcher Frage jemand an den Wissenschatz herantreten wird.

In Zeiten der emanzipierten Abfrage ist die Aufgabe des Bibliothekars die Gastfreundschaft. Der Gast – der Fremde, der Unbekannte – wird kommen und er wird eine Frage haben, mit der wir nicht rechnen. Gastfreundschaft heißt nicht, ihn mit dem abzuspeisen, was man sich gerade zurechtgelegt hat. Gastfreundschaft heißt, den Gast gerade in seiner Fremdheit und Andersartigkeit gewähren zu lassen. Es heißt, sich von den eigenen Vorurteilen zu befreien und jede Eifersucht zu überwinden.

Ein Bibliothekar kann nicht die Zukunft planen, er kann sie nur zu sich einladen. Er kann der Zukunft ein offenes Haus bereiten, viele Türen öffnen, durch die der Andere spazieren kann.

Der Bibliothekar sollte sich jede Eifersucht verkneifen. Er sollte so viele Wege zu seinen Schätzen anbieten, wie er fähig ist. Er sollte aber auch andere gewähren lassen, wenn sie Wege bauen, die die Daten erreichbar machen. Es sollte in Fragen des Zugangs kein Konkurrenzdenken geben. Es gibt keinen „richtigen“ Weg zum Wissen. Und wenn jemand der Meinung ist, dass in diese oder jene Wand noch ein Tor gehört, zögere man nicht, sondern überreiche ihm einen Vorschlaghammer.

Draußen an diesem Gebäude steht das Motto dieser Institution:

Dieses Motto ist kein Motto. Es sind zwei Mottos. In den ersten vier Zeilen ist die Stätte frei und beherbergt die freie Rede und ist ein „Safe Harbour“ für die freie Forschung.

In den letzten zwei Zeilen verwandelt sich der Hafen in paranoide Burg. Eine Burg, die das, was in ihr ist hortet und schützt und zwar nicht mehr das freie Wort, sondern die „reine Wahrheit„. Was immer das sein soll.

Der Unterschied kulminiert in dem Widerstreit zwischen den Worten „Port“ und „Hort„. Der Port ist offen, er bietet Anschluss und Anknüpfungsmöglichkeiten. Er bietet Tore, durch die der Andere/der Gast hereinspazieren kann.

Die „reine Wahrheit“ kennt die Zukunft schon, sie hat sie gehortet, um sie gegen das Andere zu „schützen„. Es ist kein Zufall, dass das freie Wort im Port, die reine Wahrheit aber im Hort seine Stätte findet.

Es sind zwei unterschiedliche Konzepte von Wissen, die hier in Konkurrenz stehen. Eventuell ist uns das bislang gar nicht so aufgefallen, aber dieser Widerspruch drückt sich in all den Querelen um Lizenzen, Digitalisierung und der weltweiten Verfügbarmachung des Angebots aus.

Ich bitte Sie, vergessen Sie die Zukunft, der Zukunft zu liebe. Man kann die Zukunft nicht planen, man kann ihr aber einen Port bauen. Je offener und freier um so besser.

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