mspro

Seemann. Ich lese überall „Seemann“. Das ist furchtbar ungewohnt. Das bin nicht ich, das fühlt sich nicht so an. Das ist, als würde ich über eine andere Person lesen. Ich war nämlich bisher als „mspro“ unterwegs. Auch wenn ich meinen bürgerlichen Namen schon seit über einem Jahr nicht mehr geheim halte (so richtig habe ich das eh nie) war ich doch noch überall „mspro“, wo immer ich auftauchte. Jedenfalls hier, im Internet.

Es ist aber noch schlimmer. „Mspro“ ist der Nickname, den ich mir ausdachte, noch bevor ich das Internet auch nur gesehen hatte. Damals, ich glaube, ich war 14 – und in meiner Klasse dachten sich alle irgendwelche Namen aus, um die als „Tag“ an die ein oder andere Hauswand zu sprühen. Natürlich malten die meisten von uns damit nur ihre Schulhefte voll, aber irgendwo muss man ja anfangen, mit der Identität und der Findung der selben. Als Jugendlicher giert man Identität, weil sie Mangelware ist, sofern man die üblichen Konfektionsmuster nicht auf sich anwenden will und das will man natürlich nicht. Was gibt es also Naheliegenderes, als mit dem Namen anzufangen, dem eigenen Namen, dem selbst gewählten Namen, einer gewissen Selbsttaufe?

Ich hatte immer Angst – oder sagen wir: Respekt – davor. Ich empfand es sofort als Bürde, sich einen solchen Namen zu geben. Bei der „Unendlichen Geschichte“ hatte ich schließlich gelernt, was die Auswirkungen einer Namensgebung sein konnten. Sie erschafft im zweifelsfall eine ganze Welt, das ist Macht pur und es ist nur schwer Rückgängig zu machen! Ich entschied mich also für meine Initialen plus „pro“ was, wie ich damals fand, ein wahnsinnig geschickter Schachzug sei. „Pro“, das war mir damals schon klar, war eine super Variable: „Produktion“, „Professionell“, „Progressive“, „Protection“, „Prostitution“ – mir stand alles offen! (Heute würde ich es übrigens mit „Prokrastination“ übersetzen.) „Mspro“ war in gewisser Weise ein Blankoscheck auf dem Identitätsmarkt. (Und nein: Microsoft hatte ich zu dieser Zeit noch nicht als Namenskonkurrent auf dem Schirm.)

Erst ab 1998 wurde „mspro“ mit Worten und anderen kommunikativen Akten im Internet unterfüttert und eigentlich so richtig erst ab 2005 identitär ausgebildet. Damals, als ich dann mit Sack und Pack einzog in dieses Internet, zunächst mit dem Blog, dann mit vielen anderen Diensten, schließlich vermehrt durch Twitter. Damals, als man sich noch entscheiden musste, wo man sich aufhält, hier in der tristen Welt der Moleküle und des schmuddeligen Wetters, oder dort, in dieser bunten Glitzerwelt der unendlichen Identitätskonzepte, des Diskurses und der freien Debatten. Bloggen hatte noch viel von Wohnzimmer, ein Blog war eine wirkliche Instanz einer ganz eigenen Realität, und daran gekoppelt, einer ganz eigenen Identität. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so schlecht war, da eine gewisse Distanz zu wahren, zwischen „Michael Seemann“ und „mspro“. Man konnte als mspro einiges anders ausprobieren, mit Identität, Image und Reputation herum experimentieren, was ich ausgiebig machte. Die Konzepte sind neu, die Schablonen noch in der mache. „Mspro“ ist in bester Manier „artifiziell“, künstlich, geschaffen, von mir selber projektiert und ausgefüllt. Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, „mspro“ sei eine reine Kunstfigur, die völlig unabhängig von mir ist, die sich nicht auf mich zurück beziehen ließe. Nein, das wäre in der Tat sehr einfach, aber es ist in Wirklichkeit alles viel komplizierter.

Wie kompliziert, habe ich erst gemerkt, als ich 2008 von Hamburg nach Berlin zog. Zunächst muss ich feststellen, dass die Grenze bereits vorher angefangen hatte zu bröckeln. „Mspro“ war als Konzept so angelegt, um in einer Parallelwelt zu funktionieren. Twitter war für mich der erste Dienst, der die Parallelität von „virtuell“ und „real“ zu einem empfindlichen Teil aufhob. Da es der erste Internetdienst war, den ich auf dem Handy benutzte, war er immer zugegen, wo immer ich mich aufhielt. Ich war nicht mehr an meine Wohnung gebunden, sondern konnte das Internet in mein Offlineleben voll integrieren. Konsequenter Weise führte das dazu, dass aus virtuellen Followings immer öfter reale Bekannte wurden.

Dann, nach dem Umzug, hatte ich hier in Berlin zwar durchaus ein paar Leute, die ich bereits länger kannte, aber der Löwenanteil meiner Bekanntschaften kannte ich vor allem aus dem Internet und den dazugehörigen Konferenzen. Ich wurde hier also „mspro“ genannt und gerufen. Ich bin da ja auch nicht so. Ich lies das über mich ergehen und nahm das nicht allzu erst, „mspro“, „Michael Seeamnn“, who cares? Das ging so weit, dass ich überlegte, mspro auf mein Klingelschild zu schreiben. Mein eigentlich schwerelos aufgebauter Internetnick wurde auf einen Schlag die Schablone für mein normales Leben. „Mspro“ war ich – was zuvor Spielerei war, wurde Identität.
Um so merkwürdiger fühlt sich das heute an, wenn ich „Seemann sagt dies“, „Seemann behauptet das“ in Blogs lese, ganz vor allem in Blogs, die mir vertraut sind und die mich doch auch sonst immer „mspro“ nannten. Es ist genau das selbe komische Gefühl, wie das, als ich zum ersten Mal in der Kohlenstoffwelt „mspro“ gerufen wurde, vielleicht sogar noch komischer. Online, offline, „mspro“, „Seemann“, die Grenzen kollabieren vollständig, überall, wo ich darauf stoße.

Sie werden es ahnen: Ich habe die Kontrolle verloren! Diesmal über meine Identität. Damals, wie heute. „Mspro“ ist mir entwichen. Er hat ein Eingenleben aufgebaut und mich dann rücklings überfallen. Und Zack, kommt jetzt noch dieser „Seemann“ um die Ecke, so ein Doktorand und macht hier einen auf Internetversteher! Hier fällt zusammen, was nicht zusammen gehört, hier vermischt sich das Fremdbild mit dem Selbstbild, hier wanken Images und verstricken sich Reputationen.

Ich glaube kaum, dass ich das alles nochmal in diesem Leben unter einen Hut bekomme. Um ehrlich zu sein: ein bisschen genieße ich auch diese Freiheit. Sie ist wie die Freiheit des Narren oder der Kunstfigur. Es ist eine Verwirrung, die vieles möglich macht aber bei Bedarf doch auf eine „Wiedererkanntes“ zurückgeführt werden kann. Der Verlust der Identität ist nämlich ein Grund zum feiern.

Fast alle Identitätstheorien kommen zu dem Punkt, dass Identität die Summe der Zuschreibung der Umwelt sind. Es ist meist ein Bündel von Eigenschaften, Zughörigkeit zu Gruppen und der Stallgeruch bestimmter Soziotope, die die Identität definieren. Ob Deutscher, Genosse, oder Schlagzeuger in der Punkband XY: das Bilden der eigenen Identität übernehmen abstrakte Konzepte, die sich über einen Stellen und einen in einen Diskurs zwangsvergemeinschaften, mit dem man nicht mal im entferntesten etwas zu tun haben möchte. Jedenfalls im Zweifelsfall. Meine Meinung: Identität ist als Konzept eh vollkommen überbewertet! Ohne klare Identität ist das Leben auch viel komfortabler. Ich kann es mir so einrichten, wie es mir gefällt. Wenn ich die Zuschreibungskategorien der eben genannten Konzepte für mich ablehne, kann ich mich freier nach meinen Wünschen ausrichten, weil ich keinen Schablonen mehr genügen muss. Der Verlust der Identität ist ein enormer Zugewinn an Individualität.

Das wiederum wird einige an einen Satz aus dem letzten Blogpost erinnern, der zweifelsfrei ähnlich paradox klang. Dort hatte ich vielleicht etwas vorschnell ausgerufen: „Es ist die individualisierte Entindividualsierung!“ Das war nicht ganz falsch, aber in der Wortwahl vielleicht etwas unpräzise. Hier will ich es präzisieren: Im Internet habe ich die Möglichkeit der asynchronen Kommunikation. Das Prinzip haben die Blogs eingeführt (eigentlich von den klassischen Printmedien übernommen, aber im Internet und seinem Senderüberschuss, werden noch ganz andere Effekte damit erzielt) und Twitter hat dies wiederum übernommen. Ich kann die Äußerungen einzelner publizierender Einheiten (Twitterer, Blogs) „abonnieren“, ohne, dass mich die Quelle ebenfalls zur Quelle machen muss, also mich auch zu abonnieren. Das erlaubt ein wahnsinnig freies Zusammenkonfigurieren der eigenen Informationsströme und ein Höchstmaß an Informationshygiene. Man kann den eigenen Strom von Informationen und Nachrichten individuell zusammen stellen und so das persönliche Rauschen minimieren. Sobald mich eine der Quellen nervt, kann ich sie auf der Stelle „abbestellen“. Der Effekt verstärkt sich dadurch, dass die jeweiligen Quellen auf gleiche Art ihre Quellen aussuchen, was dann ein multidimensionales Gitter aus verschalteten Filtern ergibt, das insgesamt genau dem entspricht, wie ich meine Informationen bekommen will. Ich, als Individuum mit einer ganzen Reihe von Vorlieben, Sympathien, Interessen und sozialen Bindungen. Ein komplexer sozialer Filter, der meine Medienrealität individuell konstituiert. Mein mentales Exoskelett eben.

Und es ist keine Gruppe. Ich bin, anders als in Chatrooms, Foren, Nationen oder Parteien nicht ein Teil von etwas, das metamäßig über meinem Kopf schwebt. Das dort schwebt und mich ständig ermahnt: „Lies die FAQ“, „hier die Netiquette“, „dort steht unsere Satzung“, „Wir haben ja…“. Nein, es gibt kein „Wir“ in der asynchronen Kommunikation und das ist es, was ich daran so schätze. Gruppen sind unmöglich. Es gibt Bekanntschaften, es gibt soziale Bindungen, es gibt Bezugnahmen und es gibt Kommunikation. Aber es gibt kein „Wir“, weil alle Kommunikationen dezentral und verteilt ablaufen und jede irgendwie abgrenzbare Gruppe immer nur die eigene sein kann. Die, die sich um die eigenen kommunikativen Akte gruppiert. Ich bin immer das Zentrum, der einzigen Gruppe, der ich angehöre, denn ich habe sie gebildet. Und so kann es sein, dass ich aufgehe in den Gehirnen meiner Timeline und dabei gleichzeitig meine Individualität ausweite. Ja, meine Individualität selbst ist es, die dort heraus expandiert, weil jedes Following und jedes RSS-Abonnement ein bewußter Akt der Auswahl ist. Deswegen sind sie teil meiner individuellen Weltsicht, sind ihre Gedanken teil meines höchst individuellen aber gleichzeitig exterritorialisierten Bewusstseins. Das hat übrigens nichts Canetti und mit „in der Masse aufgehen“ zu tun. Es ist vielmehr das komplette Gegenteil. Die Masse, wie Canetti sie verstand, ist die Masse des Wir, ist letztendlich die Nation oder ein anderes Metakonstrukt eines kollektiven Geistes. Masse ist das höchstmaß an Identität und das Verwischen der Individualität. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich den Begriffen des Schwarms und des Hivemind misstraue, denn sie lassen solcherlei Schlüsse zu. Ich jedenfalls, möchte mich keinem Metakonzept unterordnen, möchte mich nicht identifizieren und in irgendwelchen anonymen Massen aufgehen und die asynchrone Kommunikation ist es, die genau das verhindert und zwar sehr effektiv.

Michael Seemann wurde einst durch „mspro“ erweitert. Heute erweitert „Michael Seemann“ mspro. Es ist eine Prothese, die auf der anderen Prothese aufsetzt, um etwas zu begrenzen und zu markieren, was längst aufgehört hat, begrenzbar und markierbar zu sein. Die Individualität hat sich längst von der Identität abgekoppelt und bahnt sich ihren Weg in die Freiheit. Sie wird sich nützlich machen und Irritationen in das System einspeisen an dem wir hängen, in das wir uns ausgedehnt haben. Christian Heller hat auf einer Nebenveranstaltung des 26c3, einer Veranstaltung des Chaos Computer Club, einen wundervollen Vortrag über Identity Wars gehalten. Seiner Meinung nach werden sich die Kämpfe um verschiedene (zum Beispiel sexuelle) Identitäten ausweiten, bis sie sich ganz auflösen in reine Information. Ich glaube, dass das alles sehr viel unspektakulärer ablaufen wird. Und ich glaube nicht, dass die Auflösung komplett sein wird. Es wird nur eine Entgrenzung sein, ein unscharfer Rand, ein Verfasern, meinetwegen auch in’s unendliche hinaus. Aber es bleibt etwas übrig, das jederzeit eine Individualität ausprägt und sich allzeit versucht, abzugrenzen. Vermutlich werden wir uns sogar noch in Zukunft Namen geben, aber vielleicht jeden Tag einen anderen.

(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)

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3 Kommentare zu mspro

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